Sechshundert Tage Rot-Grün — Szenen einer Ehe

■ Gleich der erste Koalitionsstreit hatte als Anlaß eine Häuserräumung Nach dem Fall der Mauer war das Bündnis allenfalls eine Zweckgemeinschaft

Mit einer Häuserräumung fing die Streitkultur in der rot-grünen Koalition an, mit geräumten Hausbesetzern wurde sie gestern begraben. Knapp eine Woche nach der Vereidigung der rot-grünen Stadtregierung im März '89 hatten ein paar Leute in der damals noch geteilten Stadt mehrere Häuser besetzt, um postwendend von der Polizei wieder geräumt zu werden. Die Berliner Alternativen reagierten auf die ersten Auswirkungen ihrer Regierungsverantwortung eher perplex, die Springer-Presse zollte Anerkennung für „die Handlungsfähigkeit“ des rot-grünen Senats.

Von der westdeutschen Öffentlichkeit noch als Exotikum bestaunt und beäugt, stritt man sich in den ersten Regierungsmonaten eher um Symbolträchtiges. Eine Einladung des Senats an George Bush erregte die alternativen Gemüter, die formale Übernahme der in Bonn verabschiedeten Sicherheitsgesetze im Rahmen der Bundeszugehörigkeit im Juni letzten Jahres verursachten schon größere Bauchschmerzen. Walter Momper ließ erstmals widerspenstige AL-Abgeordnete zur Ordnung rufen.

Ab Juni häuften sich dann die Konfliktpunkte. Während der Regierdende Bürgermeister weiterhin in der Öffentlichkeit nach „gesellschaftlicher Akzeptanz“ für Rot-Grün suchte, begann aus Sicht der Alternativen Liste das „Krötenschlucken“. Das laut Koalitionsvereinbarung „unverzüglich“ einzuführende kommunale AusländerInnenwahlrecht wurde von den Sozialdemokraten immer weiter hinausgezögert, dann mit Vorbehalt verabschiedet, und hat sich nun nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts fürs erste erledigt. Der beide Seiten zermürbende Dauerstreit um eine Stromtrasse, die West-Berlin an das westdeutsche Stromnetz anschließen sollte, ließ die SterndeuterInnen im Rathaus mehrmals ein Ende der Koaliton prophezeien. Die SPD fürchtete um ihren Ruf bei der Wirtschaft, die AL um ihre Reputation als Umweltpartei.

Letztere zog schließlich im Dezember den Kürzeren. Der Streik der Westberliner ErzieherInnen für Tarifverträge und die geplante Ansiedlung eines Dienstleistungszentrums des Automobil- und Rüstungsgiganten Daimler-Benz im zentralen Bereich ließen SenatorInnen und FraktionärInnen immer wieder bis in die frühen Morgenstunden tagen. „Koalition am Ende“ lautete alle paar Wochen die Standardschlagzeile. Selbige hielt, strapazierte aber die Nerven der Beteiligten bis auf das Letzte und zehrte an den Sympathiepolstern zwischen Sozialdemokraten und Grünen.

Nicht verkraftet hat das rot-grüne Bündnis letztlich die Maueröffnung am 9. November 1989. Während die Regierungsmannschaft um Walter Momper relativ schnell auf Vereinigungs- und Hauptstadtkurs umschaltete, haderte die AL monatelang mit sich selbst und ihren zerstrittenen Fraktionen in Sachen Deutschlandpolitik. Egal ob es sich um die Bewerbung für die Olympischen Spiele oder die Gier nach dem Regierungssitz handelte, der kleine Koalitionspartner wurde immer wieder zum Statisten degradiert. Das bestätigte sich am letzten Montag erneut, als die Alternativen in Rathausfraktion und Senat von den Häuserräumungen genauso überrascht wurden wie die BesetzerInnen selbst. Andrea Böhm