: Die Lanzette der Kritik
Zum siebzigsten Geburtstag von Jean Starobinski ■ Von Ulrich Raulff
Der Assistent für französische Literatur an der Universität Genf absolvierte nebenher ein Medizinstudium. Der angehende Psychiater unterbrach seine Facharztzeit, um an der John Hopkins University Literaturwissenschaft zu lehren — und verbrachte von neuem seine freie Zeit in klinischen Übungen und medizinhistorischen Seminaren. Der Autor der großen kritischen Studie zu Rousseau (1957) ließ drei Jahre später eine Abhandlung über die Geschichte der Melancholie-Behandlung folgen. Lange Zeit konnte es den Anschein haben, als sei Jean Starobinski ein unruhiger Wanderer zwischen den zwei Kulturen, zwischen Literatur und Naturwissenschaft, in seinem Fall der Medizin. Daß er, ähnlich wie Jaspers oder Foucault, über eine erstaunliche Doppelbegabung verfügte, war früh ersichtlich. Doch sollte es eine ganze Reihe von Jahren dauern, bis sein Publikum — und vielleicht auch er selbst — erkannte, wo die eine Ellipse verlief, die beide Pole seines Denkens umschloß. Auch den Essay macht niemand ohne Grund zur privilegierten Mitteilungsweise: Jean Starobinski hat viele Essays geschrieben, hat — im strengen Sinne — viele Versuche unternommen, bis endlich der Weg gebahnt war, der gleich nah zu Kunst und Wissenschaft, Kritik und Medizin verlief. Dann aber sah es aus, als hätte es diesen Weg schon imnmer gegeben, und man hätte ihn bloß noch zu beschreiten brauchen. Es gehört zur Kunst Jean Starobinskis, Dinge zu erfinden, die in so hohem Maße evident sind, daß sie den Anschein erwecken, man habe sie nur — quasi im Handumdrehen — zu finden brauchen. Rückblickend meint man so zu erkennen, daß der Arzt und Medizinhistoriker Starobinski sich mit untrüglichem Gespür zu Punkten hin bewegte, an denen er den Literaturwissenschaftler und Kritiker Starobinski treffen mußte.
Ein solcher Punkt war die historische Semantik, die Starobinski von seinem Freund und Lehrer Leo Spitzer übernahm und für die Geschichte medizinisch-psychiatrischer Begriffe fruchtbar machte. An Wörtern wie „Nostalgie“ oder „Reaktion“ demonstrierte er die Historizität naturwissenschaftlicher Konzepte und die Macht der Metapher auch in den vermeintlich strengen Wissenschaften. Eine dieser kleinen Geschichten wissenschaftlicher Rede galt dem Schicksal der „Passionen“, also der sprachlichen, diagnostischen und therapeutischen Verfassung von Leiden und Leidenschaften — gewiß ein Schlüsselbegriff für den, der Literatur nie anders las denn als Spur und Abdruck von Leidenschaften, als individuelles Pathogramm mit universaler Bedeutung. So erklärt sich auch die lebenslange Beschäftigung mit dem Phänomen der Melancholie, der schwarzen Tinte, die in den Adern der Kreativen fließt und von der jede Psychologie der Kunstentstehung zu berichten weiß. Auch Madame Bovary ist mit dieser Tinte geschrieben, wie Jean Starobinski in einer Studie von vollkommener Schönheit und Dichte gezeigt hat. Wie zahlreiche Schriften Starobinskis der letzten zwei Jahrzehnte kreist sie um die Phänomenologie derCoenaesthesie oder des inneren Körperbewußtseins, um die Art und Weise, wie sich ein Körper sich selbst mitteilt, wie er sich selbst als schmerzhaft oder beglückt empfindet, wie er sich leben und — man denke an Emma Bovarys Ende — sich sterben fühlt. Coenaesthesie, ein Begriff der Medizin seit dem 18.Jahrhundert; Selbstempfindung eines lebendigen Körpers, ein Thema der Literatur seit dem 19.Jahrhundert — Jean Starobinski wechselt von einem Register zum anderen, beiden treu, an keines ausschließlich gebunden.
Die Selbstempfindung eines Subjekts: Kaum hat man sich von Starobinski zu diesem „Motiv“ hinführen lassen, so meint man, es überall und in den frühesten Schriften dieses Autors wiederzufinden. Liegt es an der optischen Täuschung der Retrospektive? Oder ist es der eigentümliche Effekt eines kreisend-vertiefenden, sich immer wieder neu an alten Texten, vertrauten Autoren versuchenden Schreibens — ist es also ein „Starobinski-Effekt“? Jedenfalls scheint bereits die große Studie zu Rousseau (La transparence et l'obstacle, 1957; dt. 1988) auf nichts anderes zu zielen als auf dies: ein einzigartiges Lebensgefühl, das seiner selbst mächtig zu werden und sich auszusprechen sucht, die träumerische Erinnerung an ein Glück, das verloren scheint und dem ein sehnsüchtiges Subjekt nun durch alle Objektivationen der Welt und mit allen Listen der Sprache nachstellen wird. Denn Rousseau verlangt nach ungetrübter Transparenz, nach einer Kommunikation der Bewußtseine im reinen Akt des Blicks, nach einem Austausch der Herzen, welcher der Vermittlung der Sprache nicht bedarf. Doch dieses Verlangen kann er nicht anders als in Zeichen kundtun, und also muß er sprechen, muß schreiben, und sein Verlangen wächst im gleichen Maße, wie der Akt der Bezeichnung ihn von der Erfüllung entfernt. Zwischen dem Wunsch nach der ursprünglichen Reinheit des Blicks und der Notwendigkeit, sich durch künstliche Zeichen mitzuteilen, entwickelt sich — in einer langen, schicksalshaften Bewegung — das Werk, in dem das Leben sich verzehrt. So wird aus Rousseaus Selbstempfindung der autobiographische Impuls, aus dem, wie Starobinski zeigt, das gesamte Werk hervorgeht.
Kein Zufall ist es, daß die beiden bedeutendsten Studien Starobinskis, sein Rousseau-Buch und sein Montaigne en mouvement (1982, dt. 1986), sich den zwei Autoren französischer Sprache zuwenden, die — lange vor den großen Idiosynkraten des fin de siècle wie Nietzsche und Proust — ihre subjektive Passionsgeschichte zum Stoff philosophischer Literatur gemacht haben. Und ebensowenig ist es Zufall, daß Rousseau von einem Verlangen nach Transparenz handelt, das sich eben durch seine Mittel Hindernisse in den Weg legt. Der kritische Wunsch, die Dinge vom Schleier zu befreien, welcher sie dem Blick entzieht, schafft neue Undurchsichtigkeiten. Leitmotive von Starobinskis Kritik klingen hier an: das Verlangen des Blicks, der lebendige Beziehungen herstellen will; das Hindernis des Schleiers und der Wunsch, ihn zu durchdringen, um dem Blick sein Recht zurückzuerstatten; die Krise, die eintritt, erweist sich die Verstrickung als unauflöslich; der Gang eines Subjekts in die Nacht der Melancholie...
Verborgen in einer Werkbiographie Rousseaus erzählt Starobinski paradigmatisch die Leidensgeschichte der Kritik: derselbe Streich, derselbe Federstrich, der die Schleier durchtrennen und die verborgene Wahrheit enthüllen will, vermehrt mit den Worten, auf die er doch nicht verzichten kann, die Zahl der möglichen Mißdeutungen, Irrtümer, Lügen. Die kritische Rede legt neue Schleier um die Wahrheit. Doch gibt es überhaupt eine Wahrheit hinter den Schleiern? Verdeckt die Maske wirklich ein Gesicht? Schon früh, am deutlichsten vielleicht in der Aufsatzsammlung L'oeil vivant (1961, dt. 1984), hat sich Starobinski gegen die Vorstellung gewandt, Aufgabe der Kritik sei es, eine verborgene Hinterwelt, einen eigentlichen, tieferen Sinn der Texte aufzudecken. Im Gegenteil, über den Mythos von der Tiefe führt der Weg der Kritik zurück zu den Oberflächen: „Ein langer Umweg verweist uns auf die Wörter selbst zurück, in denen der Sinn seinen Aufenthalt gewählt hat, und der geheimnisvolle Schatz erglänzt, den man in der ,Tiefendimension‘ glaubte suchen zu müssen.“
Fünfundzwanzig Jahre nach seinem Rousseau erweist Starobinskis Montaigne daß die Geschichte der Kritik nicht heillos und das kritische Subjekt nicht zum unglücklichen Bewußtsein verurteilt sein muß. Auch Montaigne klagt — in einer ersten Phase seiner intellektuellen Aktivität — die Welt des Scheins an, kämpft wider das Maskentheater der Welt, zieht sich endlich zurück aus dieser Welt in die Einsamkeit seines Turms. Doch statt der erhofften Seelenruhe erwarten ihn Zerrissenheit, Phantasmen, Krise und Trübsinn. Montaigne beginnt zu schreiben — und was Rousseau später verwehrt bleibt, gelingt ihm. Zwar kann das Schreiben die Kluft nicht schließen, die sich zwischen der Welt und dem Subjekt aufgetan hat. Doch es verhilft diesem zu einer reflektierten und übrigens auch aktiven Stellung in der Welt, hilft ihm, in dieser Welt der vielfältig gebrochenen, schattierten Wahrheiten zu leben. Nicht anders als Rousseau transportiert auch Starobinskis Montaigne eine untergründige Geschichte der Kritik. Doch ist es nicht länger die Geschichte einer ausweglosen Verstrickung, nicht länger nur ein Echo auf Nietzsches Lehre von der Tiefe der Oberflächen. Diesmal führt die Kritik über die anfängliche Destruktion der Scheinwelt und die folgende Selbstzerstörung des kritischen Subjekts zurück in die einzige Welt der Lebenden: „Unsere Sprache ist ohne Macht, wenn wir von ihr die Enthüllung einer wahren Welt erwarten: aber sie bietet uns Fülle, wenn wir in ihr zu leben einwilligen, in dieser ersten Welt, in der wir dem Leiden, der Wollust und der Wirrnis begegnen.“
Für diese Bewegung der Kritik von der Entlarvung zur Versöhnung, von der Destruktion zur, an muß wohl sagen, Therapie hat Jean Starobinski in einer unlängst erschienenen Aufsatzsammlung (Das Rettende in der Gefahr, 1990) ein einprägsames Bild gefunden. Es ist die Lanze des Achill, die Telephos erst verwundete und dann heilte. Zwiespältig, bipolar wie diese Lanze ist auch die Kritik: Sie führt die Krise herbei, doch sie vermag sie auch in einen Heilungsprozeß aufzulösen. Anhand einer Reihe von Aufsätzen zu Autoren und Werken des 18.Jahrhunderts demonstriert Starobinski, wie dicht oft Übel und Heilmittel beieinander liegen, wie oft Giftpflanze und Heilpflanze dieselbe Wurzel haben. Im Schutz seiner diskreten Form unternimmt das Buch den überaus anspruchsvollen Versuch, zwei diametral entgegengesetzte Denkfiguren, das Zerreißende und das Heilende, zwei Grundfiguren der Moderne, zusammen zu denken. Fast im Ton der Plauderei läßt der innere Dialog des Kritikers Starobinski und des Arztes Starobinski Jahrhundertthemen anklingen.
Wie die Moralisten des 18.Jahrhunderts, in deren Traditon er steht, weiß Jean Starobinski, daß die Kritik eine politische Aufgabe zu erfüllen hat. So findet auch sein Montaigne erst wirklich zu sich selbst, nachdem er sich in den Dienst des Gemeinwesens gestellt hat. Und er zeigt, und dies macht für Starobinski seine Aktualität aus, daß es auch in Absenz von historischer Hoffnung möglich ist, die eigene Gegenwart zu bestehen. Gewiß ist es eines der Ziele von Starobinskis Kritik, die Menschen von den Imperativen einer utopisch verfaßten Zukunft zu befreien. Doch allein beim Befreien will es diese Kritik nicht mehr lassen. Er will diejenigen ermutigen, die — von nun an ohne inner- oder außerweltliche Erlösungsaussicht — einer schwierigen Welt gegenüberstehen. Wer auf die Versprechungen der Zukunft verzichtet, dem muß darum die Gegenwart nicht zu eng werden, lehrt Starobinski — noch einmal durch den Mund Montaignes: „Als der Philosoph Pyrrho in einem Seesturme in großer Gefahr schwebte, verwies er diejenigen, die um ihn waren, zur Nachahmung auf die Fassung eines Schweines, das sich auf dem Schiffe befand und das Ungewitter ohne Furcht aushielt.“
Wichtige Titel Jean Starobinskis in deutscher Übersetzung:
Psychoanalyse und Literatur, Suhrkamp 1973/1990
Besessenheit und Exorzismus. Drei Figuren der Umnachtung, Ullstein 1978
1789. Die Embleme der Vernunft, UTB 1981
Das Leben der Augen, Ullstein 1984
Portrait des Künstlers als Gaukler, Fischer 1985
Montaigne. Denken und Existenz, Hanser 1986
Kleine Geschichte des Körpergefühls, Universitätsverlag 1987, erscheint in Neuauflage bei Fischer
Rousseau. Eine Welt von Widerständen, Hanser 1988
Die Erfindung der Freiheit 1700-1789, Fischer 1988
Das Rettende in der Gefahr. Kunstgriffe der Aufklärung, Fischer 1990
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