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Die Zukunft ist nicht sein Thema

Zwei Tage im Leben des Lothar de Maizière/ Ein Wahlkampf, der keiner ist/ Vom Alten- und Krankenghetto über den Lions-Club zum Knast Brandenburg / Dutzende Fragen und Probleme auf den Notizblock gebannt / Widerspruch zwischen Anwaltsrolle und Funktion als CDU-Funktionär  ■ Von Petra Bornhöft

„Und Sie?“, erfragt die Pommesbruzzlerin am Autobahn-Rastplatz vor Berlin den Wunsch des kleinen Mannes im grauen Anorak. „Eine Bulette mit Kartoffelsalat“, antwordet der Kunde. Bereits wieder der Friteuse zugewandt, zuckt die Frau zusammen, dreht sich noch einmal dem Mann zu. Erkannt: der ehemalige Ministerpräsident der DDR. „Wollen Sie Majo oder Ketchup?“ Lothar de Maizière entscheidet sich für den roten Klacks. Niemand der umstehenden Autofahrer spricht ihn an. Sie ignorieren den prominenten Stehtisch-Nachbarn.

Nimmt der Bundesminister ohne Geschäftsbereich nicht wahr, daß er nicht wahrgenommen wird? Munter plaudert der 50jährige über die Flausen seiner drei Enkelinnen, eine Vorliebe für Dackelhunde und — natürlich — das Weihnachtsoratorium. Zwei Tage Bratsche spielen, am Wochenende nach den Bundestagswahlen. „Das muß sein, sonst wäre für mich kein Weihnachten“, sagt der leidenschaftliche Geiger. Kanzler Kohl will am 20. Dezember die Regierungserklärung verlesen. Einem Minister oder einen Bundestagspräsidenten in spe bliebe vermutlich kein freies Wochenende für die Musik. über seine persönliche Zukunft indes scheint de Maizière genauso ungern zu sprechen wie über die Zukunft Deutschlands. Schon gar nicht am Rastplatz zwischen sieben (Wahl-)Terminen und einer Bulette. Die Zeit drängt, im Knast Brandenburg warten der Direktor und der Gefangenenrat.

Im größten Knast Europas

Mauern, Elektrodrähte, Wachtürme, Gleisanlagen, graue Fabrikgebäude und mittendrin die Backsteinbunker der Zellen — nichts fehlt am Modell der mit 43 Hektar „größten Gefängnisanlage Europas“, das Anstaltsleiter Udo Jahn per Knopfdruck beleuchtet. Honeckers rot gepolsterter Besucherstuhl steht auf einem abgesperrten Podest. De Maizière läßt sich alles im Stehen erklären. Den aktuellen „Bestand“ beziffert Jahn auf 1.200 Gefangene, sogenannte schwere Jungs.

Der nach Hungerstreiks und Dachbesetzungen von der Volkskammer Ende September beschlossene Straferlaß hat in Brandenburg für zwei Häftlinge die Schiebetore geöffnet. Bei 192 Insassen wurde die Strafe um ein Drittel gemindert. Der Rest der hier oft seit mehreren Jahrzehnten Weggeschlossenen ging leer aus. Dazu schweigt de Maizière. Schließlich hatte der Ministerpräsident im Parlament weitergehende Forderungen abgelehnt. Dort hatte der Politiker gehandelt, hier erinnert sich der Anwalt an einen Besuch, als ihn ein schizophrener Mandant angebrüllt hatte. Ob immer noch Menschen hier seien, „die Strafe gar nicht erreichen kann“, fragt de Maizière. „Ja“, nickt Jahn, „ich habe eine Vielzahl von Pflegebedürftigen und Menschen, die in eine Nervenklinik gehören.“

Was er nicht hat, ist Geld. Seite um Seite des Notizblockes füllt der Minister mit akuten Mängeln. Korrekt das Resümee: „Die Justiz ist jetzt Ländersache. Leider dauert es, bis der Landeshaushalt steht.“ Und fast im Flüsterton: „Wenn da nicht überbrückt wird, bricht es zusammen.“ Vor allem dürfte es kalt werden im Knast: weil kein Geld für die defekte Pumpe im Kesselhaus da ist, muß eventuell die Heizanlage stillgelegt werden.

Gnadenanträge verschwunden

Die sechs Mitglieder des Gefangenenrates haben andere, wichtigere Probleme. Weshalb die vom Ministerpräsidenten angeordnete Überprüfung der Urteile noch nicht begonnen habe, obwohl der Beginn auf den 10. Oktober datiert war, wollen sie höflich wissen. Ausweichend nuschelt der Politiker etwas von „Abstimmungsschwierigkeiten“ unter den Ländern. Von der ursprünglichen Weigerung der südlichen Länder ist ebensowenig die Rede wie von den 200 Brandenburger Gnadenanträgen, die vom Schreibtisch der Volkskammerpräsidentin Bergmann-Pohl ins Bermuda-Dreieck entschwanden. „Sie erwarten also eine akkurate und schnelle Überprüfung auch des jeweiligen Sachverhaltes?“ bündelt de Maizière die Anliegen. „Das erste ist uns besonders wichtig“, so ein Sprecher, „daß es länger dauert, wissen wir.“ Wie lange, das werden sie kaum ahnen. Denn die Überprüfung des „Sachverhaltes“ bedeutet nicht nur Einsicht in das oftmals überhöhte Urteil, in die noch öfter gefälschten Akten und erpreßten Geständnisse, sondern vor allem ein neues Verfahren mit neuer Beweisaufnahme — und das nachdem die Tat fünf, zehn oder 20 Jahre zurückliegt. Wie soll das angesichts des desolaten Zustandes der Justiz funktionieren, zudem in einem vertretbaren Zeitrahmen? De Maizière kann von Glück sagen, daß seine Gesprächspartner nicht eben hartnäckig nachbohren. Sie freuen sich darüber, daß mal jemand geduldig anhört, warum für die Häftlinge „das letzte Jahr gezählt hat wie fünf Jahre hier“. Der das sagt, brummt seit 15 Jahren. „Das schlimmste ist die Ungewißheit.“ De Maizière blickt auf den Schreibblock und schließt: „Ich kann Ihnen nichts versprechen, mit Ausnahme des Beginns der Überprüfung.“

Parteigeschichte umgeschrieben

Daß de Maizière sich im Knast nicht über die von seiner Partei prognostizierte große Zukunft des großen Deutschlands verbreitet, ist ebenso verständlich wie angenehm. Sonderbar jedoch, daß er auch beim Berlin- Brandenburger Lions Club — unmittelbar vor dem Besuch im Gefängnis — Visionen mit dem „Wunsch nach baldiger Aufhebung der Unterschiede zwischen den Bundesländern“ erschlägt. Dabei stellt er sich das Thema selbst: „Wir wollen gemeinsam über die Zukunft Deutschlands nachdenken.“ Doch die Rede vor rund hundert Nadelstreifen, Sakkos, Kostümen mit Samtkragen inklusive männlichem Kurzhaar-Nachwuchs auf den Samtstühlen im Palace-Hotel handelt nahezu ausschließlich von der DDR, mithin von der Vergangenheit. „Wer vordenken will, muß nach-denken, inhaltlich und zeitlich“, rechtfertigt de Maizière die Rückschau auf den Ost-CDU-Parteitag im Dezember, die Wahlen, zwei Einigungsverträge und die Zwei- plus-vier-Verhandlungen. Die Crux: beim Nach-Denken klaffen Lücken, und zum Vor-Denken kommt es nicht.

Den 9. November wird de Maizière nicht allein wegen der Maueröffnung nicht vergessen. Am Morgen jenes Tages wählte der Hauptausschuß der Ost-CDU ihn zum neuen Vorsitzenden. Damals gestand er für seine Partei durchaus eine Mitschuld an der 40jährigen SED-Herrschaft ein. Noch in der Regierungserklärung vom April räumte er ein: „Es ist nicht die PDS allein, die unsere DDR-Vergangenheit zu verantworten hat. Auch meine Partei muß sie verantworten. Wir alle müssen sie verantworten.“ Und: „Wir müssen uns unsere seelischen Schäden bewußt machen.“ Hoch gelobt und schnell versenkt jene Regierungserklärung.

Als jemand, der sie besonders tief versenkt hat, präsentiert sich der kleine de Maizière ganz groß auf dem Hamburger CDU-Parteitag am 1.Oktober: Die CDU der DDR „war geteilt in eine korrupte SED-hörige Führung und in eine an der Basis arbeitende, aber wenig wirksame Partei“. Nicht die Aussicht auf eine mittlere Karriere oder wenigstens ein vergleichsweise unbehelligtes Leben trieb die Masse der 140.000 Mitglieder der CDU in die Partei, nein, es müssen verkappte Widerständler gewesen sein. Denn laut de Maizière stand „die Mitarbeit in der CDU immer unter der Gefahr, Repressionen, Verdächtigung oder Verfolgung ausgesetzt zu sein“.

Die zwei Seelen des Lothar de Mazière

Auf die Frage der Journalistin nach den Gründen für diese Abkehr von früheren Bekenntnissen antwortet de Maizière — die Arme zur Abwehr verschränkt: „Es besteht ein Unterschied zwischen einem Ministerpräsidenten und einem Parteipolitiker. Auf einem Parteitag redet man als Parteimensch.“ Ein Widerspruch, bei dem die Seite des CDU-Funktionärs immer gewichtiger wurde.

Warum sonst etwa bleibt vor den Damen und Herren vom Lions Club in der etwa neunzigminütigen Rede unerwähnt, daß de Mazière seit dem 19. November 1989 als Kirchenminister und Stellvertreter von Hans Modrow im Kabinett mitverantwortlich war für alle heute heftig kritisierten Entscheidungen des Ministerrates? Würde er sein ausdrückliches Lob in der Regierungserklärung für den „Demokraten Modrow“, dessen „behutsame Politik“ entscheidend dazu beigetragen habe, „daß uns sicher vieles erspart blieb“, heute wiederholen? Merkliches Zögern. „An der Ecke müßte ich überlegen. Wir wollten das Volk ohne Hungern und Frieren über den Winter zu den Wahlen bringen. Das war wohl auch Modrows Ziel. Aber dann ist viel passiert, was ich nicht so herrlich finden kann.“ Für eine Wertung der Person Hans Modrows wie seiner eigenen Arbeit als Ministerpräsident bedürfe es mehr Ruhe und Distanz gegenüber den Ereignissen. Aber bedarf es dieses Abstandes auch, um die machtpolitischen Konstellationen in Deutschland inklusive der eigenen Rolle während des letzten Jahres wenigstens ansatzweise zu reflektieren? Diese Frage stellt sich Lothar de Maizière nicht. Statt dessen blitzt eine früher sehr offene, jetzt eher innere Abneigung gegen Parteipolitik gelegentlich durch. So etwa, als er den Lions-Mitgliedern andeutet: „Unglücklicherweise fielen unsere Aufgaben als Regierung in eine permanente Wahlkampfzeit.“ Dieser Geschäftsgrundlage hatte der unerwartete Wahlsieger sich noch verweigert, als er die SPD in die Regierung zog mit dem Argument, nur eine große Koalition könne „gegen Bonn“ das nötige Gewicht darstellen.

Dem Kohlschen Druck gab de Maizière im Frühsommer nach, als das Ausmaß der wirtschaftlichen Misere sich abzeichnete, keine Volkskammersitzung ohne Demonstrationen über die Bühne ging. Assistiert von der neuen Machtfigur, Staatssekretär Günther Krause, verschärfte Bonn das Tempo. Cool ließ der Kanzler den Mann aus Ost-Berlin im Regen stehen, als der von beiden am Wolfgangsee ausbaldowerte Plan für Bundestagswahlen am 14. Oktober sich als nicht durchsetzbar erwies. Daß de Maizière sich überhaupt auf diese Idee eingelassen hat, zeigt wie sehr wahltaktische Überlegungen sein Handeln mittlerweile bestimmen: Nur weil ein „heißer Herbst“ infolge des wirtschaftlichen Desasters prophezeit wurde, wollte die CDU so schnell wie möglich den Urnengang hinter sich bringen.

„Wir sind über den Berg“

Nicht dem sicheren Sieg der Union ist der Verzicht auf ritualisierten Wahlkampf geschuldet. Die Situation ist einfach nicht danach. Bei den Geldleuten vom Lions-Club dürfte ohnehin kaum ein Herz für die SPD schlagen. Und die paar Dutzend ZuhörerInnen bei den „Bürgerforen“ im Kreiskrankenhaus Königs- Wusterhausen, der Schulaula Eichswalde oder im IFA-Klubhaus Ludwigsfelde drücken unendlich viele Probleme und Schwierigkeiten. Eine 53jährige Lehrerin verzweifelt, daß sie keinen Job mehr bekommt, die alten SEDler aber in Lohn und Brot stehen; die Beschäftigten aus der Kinderklinik „stehen vor dem Nichts“; genauso fühlen sich die Grundstücks- und Eigenheimbesitzer. Endlos die Kette der Klagen und Ängste von Arbeitslosen, Kurzarbeitern und Vorruheständlern.

Die Veranstaltungen nehmen den Charakter der Sozial- und Rechtsberatung an. Geduldig führt der Kandidat in das System des Föderalismus ein. Doch wenn etwa Mediziner nicht begreifen können, daß sie selbst entscheiden müssen, ob und wann sie in der alten Poliklinik als Ärztegemeinschaft auf eigene Faust praktizieren, dann kann der Redner nur mühsam die Verzweiflung über die „zentralistische Denke“ verbergen. Und dem Kurzarbeiter, der erkundet „an wen ich mich wenden muß für einen Stromanschluß für mein neues Eigenheim“ entgegnet de Maizière ungewöhnlich unwirsch: „An die Nachbarn. Über einen Zwischenzähler läßt sich das doch machen.“ Etwas sanfter fügt er hinzu: „Früher war Solidarität unsere Stärke.“

Als fasse er die Eindrücke dieses Samstags zusammen, erklärt de Maizière am nächsten Morgen dem Lions-Publikum die Reaktion seiner Landsleute auf den „Einheitsschock“ mit einem Vergleich aus der Tierwelt. Tiere, deren Umfeld sich radikal verändere, reagierten entweder als „Beißer“ oder gingen in „Totmannstellung“. „Darin befinden sich die meisten.“ Wie kann jemand mit dieser Erkenntnis aber auf der gleichen Veranstaltung verkünden: „Trotz aller gegenwärtigen Probleme sind wir längst über den Berg.“ Da sperren sich Verstand und Gefühl der Beobachterin. Es spricht für de Maizières Routine als Politprofi, dermaßen die Lage gesundzubeten, binnen weniger Stunden zu abstrahieren von jenem schieren, stinkenden Elend, durch das de Maizière im Saalower „Maxim Zetkin Pflegeheim“ — auch am Samstag — gestapft ist.

„Ich werde mit Herrn Blüm reden“

Der Geruch ist eine Mischung aus Urin, Lysol und Melkkammer. Gitterbett neben Gitterbett liegen Frauen mit fahlen, welken Gesichtern im Halbdunkel. Den Besuch nehmen sie wohl ebensowenig war wie angeblich ihre Umgebung. Gott sei Dank. „Ich heiße Sylvia“ lächelt ein großes, dickes Mädchen, „und wie heißt Du?“ Der Fremde ergreift die ausgestreckte Hand und antwortet: „Lothar“. Hilflos schaut er auf die stumpf spielenden Kinder. 620 junge und alte Menschen, Kranke, Behinderte und halbwegs Gesunde (über)leben in diesem „Direktivvorhaben VIII. Parteitag“ bis zum Begräbnis auf dem Heim-Friedhof. Völlig in der Luft hängt die Perspektive von BewohnerInnen und Beschäftigten nach dem 31. Dezember, wenn der staatliche Geldhahn zugedreht worden ist. Trotz Bemühen ist kein neuer Träger in Sicht. „Ich werde mit Herrn Minister Blüm reden“, verspricht de Maizière, „das System der freien Wohlfahrtsverbände funktioniert einfach noch nicht bei uns.“ Wieder ein Loch, das der Einigungsvertrag nicht füllt.

Standbein im Landesvorstand

Und wieder einmal wird Minister de Maizière einem West-Kollegen die „Verhältnisse bei uns erklären müssen“ Das sei, so ein Vertrauter, eine der wichtigsten Funktionen der fünf Ex-DDRler im Kabinett. Gegen Landwirtschaftsminister Ignaz Kiechle sollen sie mit vereinter Kraft argumentiert haben. Nicht nur ihm fehle „einfach das Verständnis. Sein Gerede von der 300jährigen Tradition des bäuerlichen Familienbetriebes haut bei uns nicht hin.“ In de Maizières brandenburgischem Wahlkreis wollen sich ganze fünf Bauern selbständig machen; die Mehrzahl bevorzugt genossenschaftliche Wirtschaftsformen — die allerdings noch konkret definiert werden müssen.

Wie die „Kümmeltürken“ ackere der Ost-Zuwachs in Kohls Kabinett, behauptet de Maizière. Für ihn mag das zutreffen. Vom nie anders als übernächtigt aussehenden Krause wird ähnliches kolportiert. Nur — wo wird die Arbeit sichtbar, wo der Einfluß greifbar, wo nimmt de Maizières „Programm“ einer „ökosozialen Marktwirtschaft“, von der er vor einem Jahr sprach, Gestalt an?

In Bonn sind die Karten nicht gemischt. Die Chancen des Kandidaten, Rita Süssmuth zu beerben oder als Minister vereidigt zu werden, gelten als schlecht. Wo man ihn am ehesten erreichen könne, will ein Eichswalder wissen, der nicht weiß, daß de Maizière heute zum Vorsitzenden der Brandenburger Konservativen gewählt wird. „Im CDU- Landesvorstand habe ich ein Standbein“, versichert der Gefragte. Westlichen Routiniers würde das als Andeutung des Rückzuges ausgelegt. Dann wäre auch das Weihnachtsoratorium passend.

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