CH BIN AUCH DEUTSCHER, WIE SIE“

„Du mein liebes Heimatdörfchen,

wieder denken heut' wir dein.

Wollen in den nächsten Stunden

ganz im Geiste bei dir sein...“

(„Lied der Kunzendorfer“, erste Strophe)

Im „Vertriebenen“-Bus nach Polen

VONTHOMASGESTERKAMP

Die Anzeige steht im „Boten für das Burgenland“, einer im Westen erscheinenden Zeitung für „die Kreise Jauer, Bolkenhain und Striegau“. Das Reisebüro Sommer, heute Soest in Westfalen, „früher Liegnitz, Georgenstraße“, bietet den „lieben Heimatfreunden“ eine ungewöhnliche Busfahrt an: „Wir sind ein renommiertes Reiseunternehmen für Spezialreisen nach Schlesien. In den letzten Jahren sind viele ehemalige Dorfgemeinschaften dazu übergegangen, die Reise in die alte Heimat gemeinsam zu planen und durchzuführen.“

Ich schließe mich einer Dorfgemeinschaft an. Meine Mutter, selbst ehemalige Schlesierin, hat mich zum „Urlaub im Riesengebirge“ eingeladen. Neben uns im Bus sitzen zwei Dutzend „Vertriebene“. Die meisten sind über 60 — und stimmen sich bereits während der Fahrt auf ihr Reiseziel ein. Durch den Lautsprecher klingt die Kassettenaufnahme einer schlesischen Kabarettistin — im Dialekt. Das Gesangbuch Die Mundorgel, laut Stempel im Innendeckel Eigentum der „Evangelischen Kirchengemeinde Unna-Massen“, geht von Hand zu Hand. Verteilt wird auch das „Lied der Kunzendorfer“ — eine Hobby-Heimatdichterin hat es im Westen getextet. Auf einem Rastplatz gibt es „Mohnbabe“, die in Scheiben geschnittenen Mohnkuchenrollen aus Hefeteig. „Eine schlesische Spezialität“, versichert mir die ältere Dame auf dem Sitz gegenüber.

Görlitz, polnische Grenze. Einsammeln der Ausweise, Geplauder über die Eintragung unter „Geburtsort“: „Ich bin in Schweidnitz auf die Welt gekommen und nicht in Swidnica“, betont der Mann in der ersten Reihe: „Wenn die das da 'reinschreiben würden, würde ich den Paß gar nicht erst annehmen.“ Die Autos stauen sich kilometerlang, die halbe Stadt ist verstopft: Die Kontrollen wurden verschärft.

Auf der polnischen Seite, in Zgorzelec, steigt „Sepp“ zu. „Sepp“ heißt eigentlich Jozef und geht, laut T-Shirt-Aufschrift, mit dem „Newfoundland cruising club“ vor Anker. „Ich bin auch Deutscher wie Sie, aus Oberschlesien“, begrüßt er seine „Landsleute“. Sepp, Jahrgang 1921, stammt aus dem zwischen Polen und Deutschen stets umstrittenen Kohlerevier zwischen Beuthen und Kattowitz. Die Nazis „germanisierten“ die Gegend, „Sepp“ mußte bei der Wehrmacht dienen und den Rußlandfeldzug mitmachen. Nach dem Krieg wurde er Geographielehrer, später Schulrat in Jelenia Góra, dem ehemaligen Hirschberg. Als „Stadt- und Bergführer“ bessert er jetzt seine magere Rente auf. Nebenbei beschäftigt er sich mit touristischen Geschäften aller Art. Er wechselt Westgeld, weiß, wo Krimsekt billig zu haben ist, oder vermittelt Taxifahrer, die am liebsten auf Devisenbasis abrechnen. Ob Kellner oder Souvenirverkäuferin, mit ihm stellen sich alle gut: Schließlich ist Sepp, der die für polnischen Verhältnisse fürstliche Trinkgelder einsammelt und in der Küche verteilt. Schließlich ist er es, der bei der Wanderung zum höchsten Gipfel der Sudeten, der 1.602 Meter hohen „Schneekoppe“, wie zufällig an einer bestimmten Verkaufsbude haltmacht und eine Pause vorschlägt.

Sepp schimpft auf die „Schlesiertreffen“, auf denen die Frage der polnischen Westgrenze trotz aller Verträge notorisch für „offen“ erklärt wird. „Sie können sich nicht vorstellen, was diese Sprüche immer wieder bei uns auslösen“, sagt er. „Die Leute, die jetzt hier in Schlesien leben, sind auch vertrieben worden“, klärt er die Reisegesellschaft auf. 1,8 Millionen Menschen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg in den ehemaligen deutschen Osten umgesiedelt — aus den Gebieten, die Polen, entlang der sogenannten Curzon-Linie, an die Sowjetunion hat abtreten müssen.

Da stand einmal eine Schule

Eine von ihnen ist Halina Musial aus Lemberg. Ich lerne sie kennen, als ich nach Jawor fahre, das früher Jauer hieß. Hier, in einer Kleinstadt von 15.000 EinwohnerInnen, hat meine Mutter ihre Jugend verbracht. Wir lassen uns mit dem Taxi in die Ulica Lukansinskiego bringen — der heutige Name der früheren Humboldtstraße. „Da stand damals eine Schule“, zeigt meine Mutter auf ein Trümmergrundstück, wo jetzt ein Verkehrskindergarten untergebracht ist. Vor dem Haus Nummer zwei bleibt sie stehen. „Das ist es.“ Ein Bürgerhaus aus der Zeit um die Jahrhunderwende, unverputzt, Reste von abgeschlagenem Stuck. Ich traue mich kaum in das Treppenhaus, aber meine Mutter macht mir Mut: „Ich kenne Frau Musial ja noch von meinem Besuch 1985.“ Wie steigen hoch in den ersten Stock. Die große Etage ist in zwei Wohnungen aufgeteilt worden. Wir schellen links, kommen ohne Ankündigung — die wenigsten polnischen Familien haben Telefon. Aber wir haben Glück: Halina Musial öffnet persönlich.

Die 78jährige trägt ein einfaches Bauernkleid, geht gebückt und hat kaum noch Zähne, ist aber geistig hellwach. Sie erkennt meine Mutter sofort, lacht, wir dürfen hereinkommen. Ein Päckchen Kaffee und eine Tafel Schokolade, in Polen knappe und begehrte Artikel, wechseln die Besitzerin. Die alte Frau mit dem Kopftuch serviert Tee. Sie kann noch ein paar Brocken deutsch — im Krieg mußte sie als „Fremdarbeiterin“ im Ruhrgebiet putzen gehen. „Hier war damals das Elternschlafzimmer“, erklärt mir meine Mutter, die Gastgeberin hört lächelnd zu. „Dort stand der Ofen, und vom Balkon aus kann man in den Garten gucken.“

Wir verabschieden uns und wandern durch das wiederaufgebaute Zentrum Jawors mit dem „Rynek“ (Ring), dem für Schlesien typischen alten Marktplatz mit seinen Laubengängen und dem Rathaus in der Mitte. „Das war mein Weg in die Stadt“, erinnert sich meine Mutter, „dort hat Großvater gearbeitet, und das ist die berühmte evangelische Friedenskirche.“ Gebrochenes Wiedersehen: fremde Inschriften auf den Geschäften, die Passanten sprechen polnisch, und die Kirche ist, bis auf eine kleine Seitenkapelle, ungenutzt: Die Gemeinde zählt nur noch ein Dutzend Seelen, die umgesiedelten Polen sind durchweg katholisch.

In Schlesien leben heute Umsiedler aus Galizien. Wer, wie Halina Musial, dem nationalsozialistischen Vernichtungsprogramm entkommen konnte, richtete sich nach 1945 in den verlassenen Dörfern und Gütern östlich von Oder und Neiße ein. Viele der Flüchtlinge waren überrascht vom Reichtum ihrer neuen Heimat: Statt Petroleumlampen gab es plötzlich elektrisches Licht, statt dem Plumpsklo auf dem Hof eine richtige Toilette mit Wasserspülung. Aus Kleinbauern wurden häufig Städter: Auf Breslauer Balkonen hielt so mancher galizische Einwanderer noch in den fünfziger Jahren Hühner — Selbstversorgung, die jahrhundertelang Sicherheit geboten hatte.

Groß-Rosen oder Rogoznica

Breslau heißt seit nunmehr 45 Jahren Wroclaw, kein deutscher Name findet sich mehr auf polnischen Straßen oder Landkarten. Nur an einer Weggabelung in Swiebodzice, früher Freiburg, weist ein auffälliges Schild auf „Groß-Rosen“ hin. Neben der deutschen Ortsbezeichnung ein schwarzes Kreuz — das Zeichen für „Martyrium“, wie meine polnische Straßenkarte vermerkt. „Guckt mal, Groß-Rosen, daß das sogar auf deutsch hier steht“, wundert sich die alte Dame aus dem Westerwald, als wir die Kreuzung passieren. Sie ist zehn Kilometer von hier entfernt aufgewachsen.

Daß da „Groß-Rosen“ steht und nicht „Rogoznica“, hat seinen Grund: Auf einem Hügel in der Nähe des Dorfes befand sich ein Konzentrationslager. 1940 als Außenstelle von Sachsenhausen gegründet, wurde das KZ später zum „Hauptlager“ in Niederschlesien. In den nahegelegenen Steinbrüchen der „Striegauer Berge“ quälte die nationalsozialistische SS Tausende von Häftlingen zu Tode. Rechnet man die rund 50 Nebenlager hinzu, waren in Groß-Rosen 125.000 Menschen interniert, 40.000 wurden ermordet.

Auf einer Taxifahrt durch das Sudetenvorland begleite ich meine Mutter zur Gedenkstätte bei Rogoznica. Wir gehen durch das stehengebliebene Eingangstor mit der zynischen Nazi-Parole „Arbeit macht frei“, stehen vor den Fundamenten der abgerissenen Häftlingsbaracken und des Krematoriums, schauen uns anschließend im Museum einen Film an. Meine Mutter ist schockiert. Sie war einmal in Bergen-Belsen, „aber da sind ja fast nur Gräber“. Plötzlich erinnert sie sich, wie sie, 1944 zum „Reichsarbeitsdienst“ verpflichtet, in einer Munitionsfabrik von Siemens in Breslau einen französischen Zwangsarbeiter traf: „Wir unterhielten uns kurz, dann sagte der Kriegsgefangene: ,Wir müssen aufhören zu reden, sonst komme ich zurück nach Groß-Rosen.‘“ In der Reisegruppe schämt sie sich fast, von ihrem KZ- Besuch zu erzählen.

Die Fahrten der „Heimwehtouristen“ in die früheren deutschen Ostgebiete scheinen unpolitisch. Unvorstellbar, daß sie ein Konzentrationslager in ihr organisiertes Programm aufnehmen. Mit Vorliebe sprechen die Reiseleiter von Sachsenkönigen und schlesischen Grafen, von mittelalterlichen Klöstern und von Festungsruinen. Geschichte kommt nur in Anekdoten vor — das 20.Jahrhundert bleibt konsequent ausgespart. Politische Feinfühligkeit ist den „Vertriebenen“ dennoch nicht vollständig fremd. Am letzten Abend, im Wintersportort Karpacz, wo auch Dänen, Niederländer und Franzosen Urlaub machen, passen sie den Text des „Riesengebirgsliedes“ der Wirklichkeit an. Bei einem Ständchen im Speisesaal ersetzen die Ex- Schlesier die anrüchige Zeile „Deutsches Gebirge“ durch „Schönes Gebirge“.