IEBENBÜRGENISTEINEALTEFRAU

Verfall, Armut, staubiger Dunst, Dunkelheit, Betonklötze und verdreckte Flüsse — die transsylvanische Landschaft hat jede Romantik verloren

VONJACOBRASCH

Siebenbürgen im Regen. In vom Wind getriebenen Garben fällt das Naß in das verbrannte Gras neben den Gleisen und auf den schwarzen Staub, der von den Feldrainbränden zurückgeblieben ist. Das Grün des überall wild wuchernden Gestrüpps zu beiden Seiten der Bahnlinie von Kronstadt (rum.: Brasov; ung.: Brassó) und Hermannstadt (rum.: Sibiu; ung.: Nagyszeben) wird dunkler und gewinnt an Tiefe. Trübe und grau drängen sich die Wolken zusammen bis hin zu den Fogarascher Bergen und geben dem Tragischen der transsylvanischen Landschaft einen noch melancholischeren, niederschmetternderen Zug. Nur wer dieses Land kennt, weiß, daß gleich hinter dem Bergkamm des Fogarschgebirges mit Sicherheit strahlender Sonnenschein herrscht. Der Paß in mehr als 2.000 Metern Höhe ist die Wetterscheide und macht den Bergsteigern zu schaffen, wenn sie in plötzlich heraufziehenden Unwettern den zerklüfteten Pfad bezwingen müssen. Einige einsame Kreuze mahnen dort oben den leichtfüßigen Gernegroß, der dieses garstige Gebirge meint, im Spazierschritt durchwandern zu können. Es schlägt zurück, unerwartet und unerbittlich. Jährlich gibt es Opfer.

Kurz unter den Gipfeln stößt der Transfogarasch-Tunnel auf die andere Seite des Wetters durch das Gestein. Eine stets mit Felsbrocken zum gefährlichen Auf- oder Abstieg wenig einladende Straße windet sich mehr als tausend Meter hinauf. Das Projekt, eine der unsinnigen Ideen des „großen Führers“, der gegen Ende der 70er Jahre partout der Schweiz und Österreich mit seinem Tunnel lächerliche Konkurrenz machen zu müssen glaubte. Kaum jemand benutzt diesen beschwerlichen Weg durch die Berge. Millionen gingen drauf fürs Prestige.

enseits leben

die Wilden

Wer oben auf dem Kamm einmal gewandert ist, der begreift etwas mehr von diesem Land, das die Wohlstandsdeutschen ebenso wie die Westeuropäer überhaupt meist gar nicht recht zur Kenntnis nehmen. Wer im Westen großzügig denkt, für den beschließen Polen, Tschechoslowakei und Ungarn das zvilisierte Europa. Der Rest mag getrost in den Nachrichten vorkommen. Das klingt dann exotisch. Jenseits leben die Wilden. Nicht einmal die Alternativsten der Alternativen bereisen Siebenbürgen (oder gar Rumänien). Da waren die DDR-Rucksackschlepper immerhin um einige Längen voraus, denn sie eroberten seit langem auch diese von mehr oder weniger üblen Gerüchten umwehte Region und begriffen sich früh schon als Schicksalsgenossen der von der Geschichte arg gebeutelten Tiefebene. Von oben, wo unfreundliche felsige Klüfte abweisende Einsamkeit schaffen, schweift der Blick über die Hänge des Fogarasch, die sich über das Siedlungsgebiet der Sachsen, Rumänen und Ungarn — und „Zigeuner“ — ausbreiten. Dörfer lagern sich zwischen endlosen Feldern, einige Kilometer vom Bergfuß entfernt schleppt sich die Bahn dahin.

Die Waggons lehren westlichen Sauberkeitsfetischisten das Fürchten. Während draußen der Regen den Staub von den Blättern wäscht, beschlagen im Inneren des Zuges die Scheiben, Feuchtigkeit dringt durch den blatternarbigen Rost, der Blasen schlägt rund um die ohnehin blinden Fenster. Rumänische Staatseisenbahn. Schwarze Krusten verschmierten Drecks haben sich im Laufe der Jahre überall auf der Einrichtung abgelagert. Alles ist schmierig. Beim Einsteigen verspürt man den unwiderstehlichen Drang, schleunigst zu duschen. Sitze und Armlehnen kleben.

Die Bahn schiebt sich durch winzige Dorfflecken, in denen Häuser verfallen, in kleinen Gärten Gemüse wächst, unbefestigte Straßen unter staubigem Dunst liegen, auch bei Regen. Gestalten, manche in abgerissenen Kleidern, andere städtisch gekleidet, lehnen in Fenstern oder stehen auf der Straße zusammen. Zahnlücken bleiben peinlich in der Erinnerung hängen inmitten lachender Gesichter. Stahlkronen wirken unheimlich. Der Staub legt sich langsam mit dem Regen. Verfall und Armut haben hier lange aufgehört, romantisch zu sein.

Schäfer, die vermutlich von den Bergwiesen kommen und von den Ungarn „Csikós“ genannt werden, gebärden sich lauthals im Zuge. Wie in alten Zeiten, als in Siebenbürgen die großen Erntefeste gefeiert wurden, als alle Nationalitäten in ihrem Kreis lebten, tragen die Männer die etwa 40 Zentimeter breiten Gürtel mit vielen Schmucknieten. Darin stecken Schurschere, Messer und andere Werkzeuge. Sie spucken rauhbeinig auf den Boden und wischen mit der Schuhsohle darüber, schieben die schwarzen Hüte ins Genick, daß das wirre Haar tiefschwarz und fettig in die Stirn fällt. Natürlich geht die Flasche rum. Zum ersten Mal, seit ich Rumänien kenne, fällt der Name Ceausescu wieder im öffentlichen Gespräch. Nebenan liest einer Zeitung — und fettgedruckt über einer ganzen Seite Text: „Casul Nicu Ceausescu“ — der Fall Nicu Ceausescu. Ein Alpdruck ist von dem Land genommen, es atmet wieder frei durch — und hustet hin und wieder noch dabei...

Zwielicht und Dämmer

Wer von Ungarn nach Rumänien einfährt, hat zwei Routen zur Auswahl. An Szeged vorbei über die Grenze bei Curtici und Arad ins Banat oder über Debrecen nach Oradea (ung.: Nagyvárod; dt.: Großwardein) nach Siebenbürgen. Noch immer ist Dunkelheit das erste, was einem begegnet in Rumänien. Kurz nach Sonnenuntergang brennt kein Licht mehr in den Straßen von Arad. Strom wird gespart oder ist ausgefallen. Wie Geister drängen die Leute haufenweise über die Gehwege, tauchen plötzlich aus dem undurchdringlichen Schwarz auf und verschwinden im nächsten Augenblick wieder. Die durchfahrenden LKWs brettern durch halbmetertiefe Schlaglöcher im Asphalt, durch die offenen Scheiben hört man die Fahrer fluchen. Ob in den kleinen Städten des Karpatenlandes oder in den Metro-Schächten von Bukarest — Zwielicht und Dämmer sind überall.

Finster sind auch die vielen Gaststätten in Rumänien. Unfreundliche Höhlen mit abstoßendem Geruch angefüllt und ewig unsauber. Touristen brauchen lange, um sich zur Einkehr zu entschließen und verschieben den Hunger meist noch eine Weile. Auch Häuser der „Luxus“-Kategorie bleiben hinter westlichen Vorstellungen zurück.

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich das Bild Siebenbürgens immer mehr dem Rumänischen Einerlei angeglichen. Von der einstigen Blüte dieser Region, die Handelsbeziehungen bis in den Orient und hinauf nach Skandinavien unterhielt, europaweit gefragte Handwerkserzeugnisse feilbot und mustergültigen Ackerbau betrieb, sind nur blasse Reste geblieben. Wenn der Nebel sich mühsam aus den Niederungen zwischen den Hügeln gehoben hat, erkennt man die spärlich und niedrig stehenden Maispflanzen auf Feldern; hinter der ungarischen Grenze sieht es trotz der diesjährigen Dürre besser aus.

Auch in Dörfer und Kleinstädte ist der für Rumänien typische Stahlbeton eingezogen, der roh und klotzig zu kantigen Massiven getürmt wird. Man findet ihn überall im Lande, vom Wetter nicht eben verschönt, als Wohnblock oder Großhotel, Fabrikhalle oder Bahnhofsgebäude. Industrieanlagen gammeln vor sich hin, Kalisalzdünger werden Lastwagenweise am Feldrand abgekippt und ruhen dort, bis der Regen nach Monaten die kleinen Berge zu breiten weiß-grauen Flecken breitgewaschen hat. Dort wird noch nach Jahrzehnten nichts mehr wachsen, und das Grundwasser schmeckt womöglich „angenehm“ salzig... Das schwarze Tal von Copsa Mica (dt. Klein-Kopisch) ist fast schon Legende: Ein öliger, schwarzer Ruß bedeckt Pflanzen, Häuser, Erde und alles andere im Umkreis der dortigen Fabrik. Bei offenem Zugfenster zeichnen sich schwarze Schatten im Gesicht ab... Schienenstöße rumpeln, als seien Stufen im Geleise. Ein besonderer Geruch herrscht überall.

Auch in Siebenbürgen sind heute die Flüsse oftmals trübe, schäumen widerwärtig. Dreck häuft sich. Auf den Straßen neben den allgegenwärtigen Dacias (ein Renault-Nachbau) rollen jetzt erste Karossen aus dem Westen.

In Rumänien, wie auch in Siebenbürgen ist das Verhältnis zum eigenen Auswurf noch ungetrübt. Da wird hemmungslos gerotzt, gespien, und man sieht selbst betagte Mitbürger öffentlich den rechten Daumennagel an den linken Nasenflügel legen, um sich mit kurzen Schnief ohne Taschentuch zu schnäuzen. Eine Kunst, die bei uns mehr und mehr in Vergessenheit gerät...

Verblühte Schönheit

Siebenbürgen ist ein Land, das man nicht so ohne weiteres begreift. Während die Ungarn der Zeit hinterhertrauern, als „Erdély“ noch magyarisch war und sie hemmungslos schalten und walten konnten (Ungarn verlor im Vertrag von Trianon 1920 mehr als die Hälfte seines Territoriums an Rumänien und hat sich noch immer nicht damit abgefunden), blicken die Deutschen resigniert in die Zukunft. Die Siebenbürger Sachsen genossen während ihrer 800jährigen Geschichte hier ebenso wie die Banater Schwaben und die Sathmarschwaben hohe Privilegien, die von den österreichisch-ungarischen Regenten garantiert worden waren. Sie gehörten zu den Hauptmotoren der Wirtschaft. Auch heute erwarten viele von ihnen wieder das Aufrichten der Betriebe und Bauernhöfe in diesem Teil Rumäniens. Doch nach den Jahren der Repressalien sind die meisten müde. Die Jungen wollen endlich leben und gehen nach Deutschland.

Der Regen geht über Siebenbürgen hin und frischt die Farben dieser mit Naturschönheiten und kulturellen Traditionen so reich ausgestatteten Landschaft ein wenig auf. Hermannstadt kommt in Sicht. Die roten Mauern dieser ehemals schönsten Stadt der Gegend waren einst weithin bekannt. Enge Gassen mit sauberen Handwerkshäusern, ein ansehnliches Museum am Großen Ring, mit Bildern von Weltrang — heute dämmert die Siedlung am Zibin in langsamem Erwachen. Die Liste der Toten vom Dezember ist lang. Im Kulturhaus steht der Ceausescu-Sohn vor Gericht. Am Rande dieser alten Stadt, die noch in einigen Ecken ihren alten Glanz ahnen läßt, verstellen Neubauten die Sicht. Holzplätze ziehen vorüber, bevor der immer umlagerte Bahnhof sich langsm vors Zugfenster schiebt und man über mittelalterliche Katzenkopfpflaster geht.

Auch nach dem Tode des Tyrannen bleibt die Frage: Womit verdienen Völker ihre Schicksale? Wie kann es immer noch gelingen, daß einzelne das Dasein von Millionen ruinieren? Siebenbürgen ist eine alte Frau, die sich langsam wieder aufrichtet und früher einmal eine Schönheit war. Doch die Jahre der Jugend kommen selten zurück.