Kein Anlaß für Scherbenhaufen

■ Rot-grüne Politik nach dem Bruch von Rot-Grün in Berlin KOMMENTARE

Ein Koalitionsende mit Grotesken: Ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als die rot-grüne Koalition an der Sollbruchstelle Sicherheitspolitik zerbrach, erklärte der Berliner Innensenator Pätzoldt, wie stolz er sei, daß die Sicherheitspolitik die „bisher stärkste Stelle der Koalition“ gewesen sei. Die Alternative Liste kündigte nicht nur die Koalition auf, sondern konfrontiert Momper mit der demütigenden Prozedur eines Mißtrauensantrags wenige Tage vor der Wahl, um gleichzeitig die Option Rot-Grün für die Zukunft zu beschwören. Die Koalitionspartner beklagen den gegenseitigen Unverstand, um nach der Trennung die hervorragende „Streitkultur“ hervorzuheben — nach dem bitteren Adieu jede Menge Liebeserklärungen. Natürlich will niemand kurz vor der Wahl als Verlierer dastehen. Aber das heißt auch, daß es etwas zu verlieren gibt. Daß die Geschiedenen jetzt der Gemeinsamkeit nachweinen, ist jedoch nicht nur taktischer Kampf um gute Presse. Beide Koalitionspartner spüren, daß die politischen Ansprüche an Rot-Grün schwerer wiegen, als die Trennungsgründe.

Aus der Alternativen Liste ließ sich gestern und heute immer wieder ein dominierendes Argument vernehmen: Man habe jetzt zeigen müssen, „daß man mit uns nicht alles machen kann“. Ein merkwürdiges Argument, das eher nach Betroffenengemeinschaft mit den Hausbesetzern klingt als nach einer Partei, die Innenpolitik macht. Tatsächlich hat die AL sich auf eine vertrackte Weise durch ihre Flucht nach vorn und von der Koalition weg mit der Straßenfront identifiziert, mit der sie selbst politisch die größten Schwierigkeiten hat. Es gibt genug Hinweise, daß die Koalitionspsychologie hier einen Trennungszwang ausgelöst hat. Für die AL war es ein Prozeß wachsender Provokation, daß die SPD ein Kabinett im Kabinett bildete und im Zweifelsfall nicht ansprechbar war. Sie empörte sich weniger über die Räumung, sondern darüber, daß weder Momper noch Pätzold für Verständigungsbemühungen erreichbar waren. Sie war es leid, durch Entscheidungen im Küchenkabinett ständig unter Zugzwang gesetzt zu werden.

Gewiß hat die SPD den Juniorpartner oft genug übertölpelt. Die Misere war vielmehr, daß zwei denkbar verschiedene Parteimilieus Rücken an Rücken miteinander regieren wollten. Diese Koalition ist weder an den Streitpunkten noch an den Kompromissen gescheitert, sondern an dem Mangel an politischer Kunst. Eine rot-grüne Koalition lebt nicht von Koalitionsvereinbarung und dem gemeinsamen Interesse am Machterhalt — einfach deswegen, weil sich in ihr gesellschaftliche Widersprüche, Schichten und nicht zuletzt die politischen Kontrahenten eines Jahrzehnts bundesdeutscher Innenpolitik zusammenkommen. Es bedurfte ganz besonders großer Anstrengung an politischer Kunst, eine Vertrauensbasis zu schaffen. Beide Partner haben hier versagt.

Ein richtiger Kunstfehler ist es auf jeden Fall, daß die AL die Koalition nicht nur aufkündigt, sondern auch ein Mißtrauensvotum anstrengt. Hier wird nun endgültig und dabei mit aller Treuherzigkeit Politik aus dem Bauch gemacht. Daß die AL trotzdem an einer rot-grünen Perspektive festhält, kann man allenfalls als ehrliche Überzeugung belächeln. Wie will sie es denn haben? Mit den Republikanern und der CDU das Mißtrauen aussprechen — oder dem CDU-Kandidaten Diepgen gar die Chance lassen, den ersten Schritt zur großen Koalition zu machen? Nichts steht dafür, auch nicht einmal die Wut der Alternativen, nach dem Koalitionsbruch einen Scherbenhaufen zu inszenieren. Sollte mit den Stimmen der Alternativen Momper stürzen, dann ist die rot-grüne Chance für lange Zeit verspielt. Nachdem die AL nun gezeigt hat, daß mit ihrer Identität nicht zu spaßen ist, müssen schleunigst Brücken gebaut werden. Die vielberufene Basis müßte nun wirklich angerufen werden, wenn es darum geht, daß die Alternativen sich erst einmal für Jahre aus der Politik verabschieden — ganz abgesehen von der Frage, was es für die Bundestagswahl bedeutet, wenn in Berlin verbrannte Erde zurückbleibt.

Es steht eben mehr auf dem Spiel als die gequälte Identität der Alternativen. Es gibt die Koalition in Brandenburg, die zusammen mit einer rot-grünen Berliner Koalition eine vernünftige Regionalpolitik betreiben könnte. Mit einer CDU-Regierung würde die Region in eine brutale Ansiedlungskonkurrenz gestürzt. Es gibt Ost-Berlin, immerhin eine noch immer getrennte Stadt von 1,7 Millionen Menschen, in der die Demokratie, die Chance auf zivile Konfliktlösung durchgekämpft werden müssen. Eine CDU würde eine Politik einer Zwei-Drittel-Stadtgesellschaft betreiben. Es geht letztlich darum, daß mit Rot-Grün ein paar Ansprüche in die Welt gesetzt sind, Ansprüche auf Öffentlichkeit, auf humane Grundsätze, auf eine menschlichere Umwelt, die es ohnehin schwer haben, in einer vereint-getrennten Metropole, die sich noch nicht kennt, und die eben mit der Gefahr leben muß, die ungeliebte Metropole des Ostens und der öffentlichen Armut zu bleiben. Gemessen daran sollte es einer Noch-Westberliner Koalition, die an einer Noch-Westberliner Geschichte gescheitert ist, nicht zu schwer fallen, durch ein paar selbstkritische Korrekturen die Zukunft offen zu halten. Klaus Hartung