Au Backe: Besuch aus der Bundesrepublik (alt)

■ Sicher: Berlin ist immer schon eine Reise wert gewesen, doch nun wächst der Haß auf die Wessis/ Einheimische leiden

Kreuzberg. Die Ulmer kamen um fünf. Morgens. Mein Gott, waren die aufgekratzt. Sie umarmten uns entsprechend, redeten ununterbrochen und stellten das Radio an. Da mich die Frankfurter gestern noch bis spät in die Nacht auf ihrer Abschiedssause durch die Stadt geschubst hatten, fühlte ich mich noch etwas bleiern in Geist und Knochen. Aber sie halfen mir. Geschickt verlängerten sie die Begrüßungszeremonie mit wohlwollenden Schlägen auf meinen verspannten Rücken oder einem gutgemeinten Knuff in die Nieren. Es gelang leidlich, ich schlief zumindest nicht mehr ein.

Schon drei Stunden später saß ich im Opel meiner Freunde, die nun vor Unternehmungslust zu bersten schienen. Sie übernahmen natürlich die Führung. Schleiften mich durch die Gegend und zeigten mir Dinge, die ich nie zuvor gesehen, ja von deren Existenz ich zum Teil nicht einmal geahnt hatte. Da ich ihrer Meinung nach »ziemlich schlecht« aussah, stützten sie mich beim Aus- und Einsteigen, nahmen mich bei ihren Erkundungsgängen liebevoll in die Mitte und beantworteten auch alle meine Fragen zur Geschichte Berlins und seiner möglichen Zukunft.

So ging das Tag für Tag. Meine gelegentlich und durchaus zaghaft vorgebrachten Einwände, ich müßte mich mal wieder im Betrieb sehen lassen, nahmen sie mir freundlicherweise nicht sonderlich übel. »Bisch jetz dodal bleed worra?« hieß es dazu nur kurz. Das war schon in Ordnung. Nicht okay war dagegen, daß sie noch bis nächstes Wochenende bleiben wollten, obwohl ich doch mehrfach beiläufig erwähnt hatte, daß sich Mittwoch bereits die Stuttgarter einfinden würden. Sie hatten ebenso wie alle anderen ein Recht darauf, den frischen Odem der Geschichte in sich aufzunehmen — und das geht nur in Berlin.

Meine Frau und ich teilten uns nach ihrer Ankunft wie immer in zwei Gruppen und versuchten so, den Bedürfnissen unserer Gäste gerecht zu werden. So ganz haut das natürlich nie hin. Und das streßt auch ganz schön.

Eines Abends, ich glaube, es war ein Montag, spürte ich deutlich, wie es mit mir zu Ende ging. Ich mußte einfach mal eine Pause einlegen und nahm mir für den folgenden Tag vor, meinen Joker zu spielen: die Flucht in eine schwere Grippe nebst anhänglicher Diarrhöe. Mit mir im reinen und dadurch guter Dinge schlief ich beruhigt in der Badewanne ein. Doch schon in den frühen Morgenstunden weckten mich langanhaltende häßliche Geräusche, die sich nach einem bösen Husten anhörten. Schlagartig war ich hellwach und lauschte aufmerksam. Das roch nach Verrat: Meine eigene Frau klaut mir den letzten Trumpf, fuhr es mir durch den Kopf. Mit einem Satz stand ich auf den Kacheln, riß die Badezimmertür auf und sprang über die sechs querliegenden Schlafsäcke durchs Wohnzimmer in unser ehemaliges Gemach, das sich meine Gattin nunmehr mit zwei Schwäbinnen, einer Hessin und meiner Cousine aus Montpellier teilte. Auf den ersten Blick sah sie wirklich schlecht aus. Doch war da nicht eben ein siegesbewußtes Funkeln in ihren schwarzen Augen gewesen? Ich gab auf. Sollte sie ihren freien Tag haben. Irgendwie würde ich es schon schaffen.

Gegen neun Uhr starteten wir. Im Konvoi. Als Reiseziel hatte ich — in einer plötzlichen nostalgischen Eingebung — Lübars vorgeschlagen. Da wurden sie dann doch etwas unwirsch: »Seit zehn Jahren schleppst du uns jedesmal in dieses Puppendorf, jetzt ist Schluß mit der Verarschung.« Die Mecklenburger Seenplatte war das mindeste, was heute auf dem Programm stand; und wenn die Zeit reichte, warum nicht einen kleinen Abstecher an die Ostsee? »Schließlich waren wir doch alle noch nicht dort, oder?« meinte Artur lässig. Ich erstarrte. Das wurde mir zuviel. »Leute, ich muß zur Arbeit«, hörte ich mich sagen, »meine Kollegen, ich...« »Jetzt mach mal 'nen Punkt«, knurrte Klaus, als er mich hart in den Fond drückte, »wann werden wir uns denn schon wiedersehen, hm?« Dabei sah er mich an, als wollte er sagen: »Mensch Alter, ich habe Krebs.« Nächstes Jahr natürlich, dachte ich. Sagte aber nichts.

Ich nickte jetzt immer häufiger ein, manchmal mitten im Satz. Werner, der mal zwei Semester Medizin studiert hatte, diagnostizierte es als »narkoleptische Reaktionen« und meinte, es käme von der Umweltverschmutzung und dem Streß in Berlin. Ich nickte und gähnte gleichzeitig. Dann schlief ich wieder.

Irgendwo, in Warnemünde glaube ich, traf ich Charly mit seinem Besuch. Eine schlichte Achtergruppe. Halb schwäbisch, halb italienisch und ziemlich angeheitert. Aber auch er sah schlecht aus, schien schläfrig und wie in Trance.

Er erkannte mich kaum. Kein Wunder. Ihn trifft es noch härter mit seinem 1-Zimmer-Wohnklo im grauen Wedding. Er ist schwer verbittert mittlerweile. Mehr als zehn Wessis gleichzeitig lehnt er neuerdings eisern ab. »Berlin wird doch jetzt Hauptstadt, ne«, argumentiert er bisweilen, »da haben die Wessis doch schon die nächste Ausrede, um sich für 'ne Weile hier einzunisten. Da muß man jetzt Weichen stellen, sonst überleben wir das nicht.« »Das ist übler Rassismus«, antwortete ich ihm das letzte Mal knapp darauf, »diese Leute sind genauso Bürger unserer Stadt wie du und ich, verstehste! Berlin ohne Wessis, biste bekloppt? Die kennen sich doch hier viel besser aus als wir, bringen mächtig Knete rein und machen bestimmt 30 Prozent der Bevölkerung aus.« Er schluckte heftig als ich hinzufügte: »Eigentlich müßte man auch ihnen das kommunale Wahlrecht gewähren.«

Der Rückweg über Wismar und Schwerin war die erwartete Hölle: »Schau dir das an, jetzt Kapital haben und dann voll einsteigen. Aber runtergekommen ist das alles. Richtig eklig, woll?«

Diese rituelle Quengelei gegenüber den Ossis hatte ich echt voll satt. Gut, es gab eine Phase, in der es schon Spaß gemacht hatte, sie wie die Ostfriesen zu behandeln. Aber die Zeiten ändern sich, man lernt sich kennen, und dann ist da plötzlich was dran an denen.

Als wir zu Hause ankamen, bemerkte ich die Neuankömmlinge gar nicht, die sich in unserem Wohnzimmer bei Kaffee und Bier niedergelassen hatten, und torkelte direkt ins Bad. Ich konnte nicht mehr. Es mußte etwas geschehen. In der Nacht zuvor hatte ich geträumt, von einem Gericht zu fünf mal Potsdam die Woche verurteilt worden zu sein. Lebenslänglich und ohne Bewährung. Zunächst rief ich Micha an. Er stieß lange, seltsam gutturale Laute aus, als ich ihn um Asyl bat. Er sei voll bis unters Dach, lallte er dann noch, bevor er den Hörer aufknallte. Bei Karl war es das gleiche, und Richard kam noch nicht mal an die Strippe. Im Hintergrund hörte ich ihn wimmern und winseln, und der Japaner am Telefon verstand mich nicht. Sagte immer nur »Da ue no, dokoni imaska?« oder so ähnlich.

Ihr werdet es nicht glauben, aber irgendwie waren sie dann doch eines Tages alle weg. Und wir wieder unter uns. Ehrlich! Mein Sohn zuckt beim Klingeln des Telefons zwar noch manchmal zusammen, aber sonst haben wir den Ansturm gut überstanden. Den nächsten Schub erwarten wir an Weihnachten/Silvester. Aber wie geht's jetzt weiter? Man verliert jedesmal Jahre seines Lebens.

Und doch: Da nicht davon auszugehen ist, daß Bundesregierung, Parlament und Ministerien an einer gigantischen Wandlitz-Variante arbeiten, wird dafür voraussichtlich die ganze Stadt in eine Art »sanfte Bannmeile« verwandelt werden. 1994! Perfekte elektronische Überwachung und jeder fünfte ein unauffälliger Kollege in Zivil. Unbezahlbare Mieten und weiterhin ein drittes Ohr in jedem vierten Telefongespräch. Der Sicherheit wegen, klar. Das muß man doch erlebt haben, nicht wahr? Also! Durchhalten! Philippe André