Gespenster und Trivialitäten

■ Nachtrag zum Karl-Hofer-Symposion über eine »neue Lust an der nationalen Identität« in der HdK

Muß es, bevor es greifbar geworden ist, als Gespenst, Phantom oder mythische Figur herbeizitiert werden, hat es Erkenntniswert, es in der Chiffre des Unheimlichen zu evozieren, sollte man nicht vielmehr auf Metaphorisierung verzichten im Dienste einer sachlichen und konkreten Annäherung? Die Rede ist von unserem großen Tabuthema, der nationalen Identität. Warum macht man die bis dato nicht vorhandene von vorneherein verdächtig in dem Titel des während der letzten Woche in der Hochschule der Künste veranstalteten diesjährigen Karl-Hofer-Symposions: Deutschland, bleiche Mutter oder eine neue Lust an der nationalen Identität?

Der Ankündigungstext lenkte die Auseinandersetzung bereits in eine bestimmte Richtung, gefiel sich im Katastrophenbild: »In atemberaubender Beschleunigung ist im Verlauf eines Jahres der Begriff der Vereinigung/Wiedervereinigung zu einer realen politischen Macht geworden.« Ein Begriff wird zur Macht? »Dies ist nur verständlich aus der offenkundigen Gegenwärtigkeit einer nationalen Identität der deutschen aus dem kollektiven Gedächtnis.« Hier braucht jemand Satzkonstruktions- bzw. Denkunterricht.

Eine nationale Identität, wenn sie, wie es zu wünschen wäre, vorhanden wäre, brauchte nicht als Gespenst halluziniert zu werden. Brauchte nicht diffamiert zu werden über uneingestandene Bezugnahme auf die NS-Zeit. Brauchte nicht dämonisiert zu werden als schlechthin böse psychische Konstitution.

Auch Heiner Müller, der am letzten Dienstag abend zum Thema Theater als Medium der Erinnerungsarbeit sprechen sollte, umkreiste nur mit allerhand Anekdotischem das heikle Thema; er zeigte eine Filmcollage von Aufnahmen seiner Hamlet-/Hamletmaschine- Inszenierungsproben und Dokumentaraufnahmen aus der ehemaligen DDR, von der Kundgebung am 4. November 89, Rednerbeiträge von Steffi Spira und Müller selbst; es gab Zwischeneinblendungen auf Krenz und Modrow — und alberne Montageeffekte, so wenn Mielke, vormaliger Minister für Staatssicherheit, von seiner Menschenliebe sprach und Hamlet dagegengeschnitten mit seinem berühmten Satz: »Es ist was faul in...«, zitiert wurde. Irre muß man werden, wurde suggeriert, an diesem neuen Deutschland, nationale Identität muß Kollektivdepression sein. Reale Personen haben den Status von Hirngespinsten Hamlets, die Realität hat ebensoviel Unwirklichkeit wie das Theaterspiel. Kokettierende Formeln und Zitate, ausschließlich daraus bestand auch Müllers anschließender Kommentar: Karl Kraus, Brecht, Karl Korsch und andere mußten herhalten, um etwas sagen zu können über etwas, worüber man nichts zu sagen hat.

Thema Theater als Erinnerungsarbeit: Ein Schauspieler erzählte im Film, daß die Theaterproben im Herbst 89 durch den Lärm auf den Straßen behindert worden seien. Theater also nicht als Spiegel des Draußen, als Erinnerungs- und Gedächtnisarbeit, sondern als abzuschottender privilegierter Raum? Das Symposion wurde unversehens seinerseits vom Lärm der Straße eingeholt: Eine Hausbesetzerin aus dem Osten gab auf der Bühne ihre Sicht der Polizeieinsätze der vergangenen Tage. Das Symposion wurde dadurch nicht behindert, eher gerade noch rechtzeitig vor dem Verstummen gerettet: Die lästige Gedächtnisarbeit hatte sich erübrigt, man konnte zu Protestkundgebungen schreiten, das Vierte Reich war Gott sei Dank da, die Notwendigkeit des Symposions war belegt, die Räume wurden der Berichterstattung geöffnet, aktuelle Brisanz wehte den schwierigen Kunstdiskurs fort. Einmütig und schwer betroffen forderte man dialogische Formen, die in den heiligen Hallen nicht in Gang kamen, für die Straße ein.

Wenig erkenntnisreich waren denn auch die Vorträge am Mittwoch, die ersten Spurensicherungen und Bestandsaufnahmen der georteten Lust an der nationalen Identität verkündeten. Wolfgang Knapp stellte unter dem Titel Schwarzrotgold »Merkwürdigkeiten aus dem Alltag« vor. Er zeigte und kommentierte Alltagsgegenstände, die unter Bezugnahme auf die Deutschlandfarben kreiert worden sind: Salzstreuer ebenso wie Dreifarbenschminksets, ein Button mit der Aufschrift »Superlover«, der ein von einem gelben Eber geschwängertes rotes Schwein auf schwarzem Grund zeigt, und so fort. Er wußte auch vom couragierten Einsatz des Feldforschers zu berichten: Eine mit Deutschlandfähnchen geschmückte Käsetheke wurde ihm zu fotografieren untersagt; den schwarzrotgold geschichteten Aquariumssand (noch ohne Goldfische!) mußte er in einer dunklen Warenhausecke eruieren.

Die Deutschlandfahne — es wurde angemerkt, daß die Hausbesetzer bei der Mittwochsdemo ebenfalls Deutschlandfahnen mit sich führten. Wollten sie damit an den demokratischen Aufbruch von 1848 erinnern, oder schwangen da andere Absichten mit, wie sie Knapp in der Art des Tragens ausgemacht haben wollte? Bald jedenfalls würde der Paragraph 90a wieder Anwendung finden, meinte Knapp, der die »Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole« bei Strafe untersagt.

Wäre diese aufgezeigte Trivialisierung von Staatssymbolen vielleicht zu einer subversiven Strategie auszubauen? Die kurz aufglimmende Hoffnung verlief gleich wieder im Sand: Während eine solche Strategie im Dritten Reich, wo es verboten war, NS-Symbole auf Trivialobjekten anzubringen, Subversivität bedeutet hätte, würde die Trivialisierung heute ja von der Werbeindustrie selbst durchgeführt. Silke Wenk sprach im Anschluß über die Bilder des Weiblichen als Zeichen nationaler Identät. Sie verdeutlichte nochmals die sattsam bekannte Parallele zwischen Vereinigungsvorgang und Kopulationsversuch, sie glaubte in den Allegorien der Borussia oder Germania neues Leben ausgemacht zu haben (Germania ist auf einer Münze im Umlauf); sie ging der Verlebendigung Nikes — der Rosselenkerin auf der Quadriga, gegenwärtig im Schönheitssalon, wie die 'Bild‘-Zeitung die Restaurationsarbeit nennt — nach. Daß die DDR häufig als unreifes Mädchen karikiert wurde, das erst zur Frau werden müsse und das schließlich als Braut heimgeführt wurde — was schließen wir daraus?

Geleistete Erinnerungsarbeit konnte schließlich anhand einiger Dokumentarfilme vorgeführt werden: Irmgard von zur Mühlens Rekonstruktion des sowjetischen Dokumentarmaterials zur Öffnung des KZs Auschwitz, eine Dokumentation von Ludwig Metzger über Zwangsarbeit und Jutta Brückners Film über ihre Mutter oder über sechzig Jahre Leben in Deutschland.

Deutschland, bleiche Mutter, Deutschland, feiste Mutter — nach einer Weder-bleiche-noch-feiste- Mutter wurde gar nicht erst gesucht. Jutta Brückner sprach wohl davon, daß die Mutter immer in ihrer Ambivalenz gesehen werden müsse; in die Mündigkeit indes wollte man sich nicht entlassen. Man hielt es lieber mit den Hausbesetzern und beschwor das Gespenst eines zeitlosen, ewig grausigen Deutschlands herauf. Michaela Ott