Eine regulative Idee im Kantschen Sinne

■ betr.: "What is left" (Thesen zur Identitätsdebatte der Linken) von Ralf Fücks, taz vom 10.11.90

betr.: „What is left?“ (Thesen zur Identitätsdebatte der Linken) von Ralf Fücks, taz vom 10.11.90

[Anm.d.Red.: Dieses Betreff gilt für alle auf dieser Seite erscheinenden Briefe]

Ralf Fücks beschreibt teilweise sehr zutreffend den Zustand „der“ Linken, wofür das Wort „Identitätskrise“ mir noch eine eher euphemistische Umschreibung scheint. Während die Altstalinisten der PDS nur noch daran interessiert zu sein scheinen, ihre zusammengerafften und -spekulierten Millionen zu retten, wogegen sich westdeutsche Parteispender fast seriös ausnehmen, tritt die geballte Militärmacht der US- Amerikaner am Golf als Sperrspitze des Völkerrechts auf. Nietzsche hat in weiser Voraussicht vor mehr als hundert Jahren mal behauptet, im Zeitalter des Nihilismus könne man die Welt nur als ästhetisches Phänomen ertragen. Mithin gäbe es also heute nicht mehr nur eine Ästhetisierung der Politik (wie im Faschismus), sondern auch eine der Moral. In unseren postmodernen Zeiten müßte es sich also etwa so anhören: Politische Moral ist der Schein, den die Massenmedien erzeugen, um die Verwirrung der Begriffe komplett zu machen. Dazu kommen Personalisierung und Emotionalisierung: Hussein der „Irre“, Gorbatschow ein „Friedensnobelpreisträger“.

Was lehrt uns das? Linke „Programme“, falls nicht Lafontaine oder grüne Naturverbundenheit Programm genug sind, sind meistens ein Konglomerat sozialdemokratischer und grüner Positionen, und es ist von daher völlig gleichgültig geworden, wen man wählt, Hauptsache, es ist links von CDU und FDP. Es ist sozusagen Geschmackssache geworden, ob man SPD, Grüne oder PDS wählt, oder eine Frage der politischen Taktik. Aus der Sicht Großdeutschlands scheint alles beliebig geworden, oder besser: postmodern.

Wie sieht der Niedergang des realen Sozialismus aber aus der Sicht Brasiliens oder der Philippinen aus? Dort, wo das Wort „soziale Marktwirtschaft“ allenfalls Hohngelächter auslöst, weiß man, was Kapitalismus als Weltmarkt heißt, und nur als Weltmarkt ist er existenzfähig: Monokulturen, Multis, Naturzerstörung im Namen der „Entwicklungshilfe“ und Produktionsoasen, wo das Großkapital Extraprofite aus Niedriglöhnen, Steuer- und Zollbefreiung zieht. Dort tritt das nackt auf, was Marx Produktion sans phrase und das Geld heckendes Geld genannt hat. Ein System, dessen einziger Daseinszweck die unaufhörliche Selbstvermehrung darstellt. Schade nur für das System, daß es in seiner göttergleichen Unendlichkeit auf die schnöde Endlichkeit der natürlichen Ressourcen angewiesen ist! Und wie schade erst recht für das System, daß es immer noch Menschen gibt, die kein Interesse daran haben, an seiner göttergleichen Erhabenheit zugrunde zu gehen!

Was im Osten Europas im letzten Jahr passiert ist, war in Wirklichkeit doch nichts anderes als eine nachgeholte bürgerliche Revolution. Der Osten entdeckt den Kapitalismus erst gerade, lassen wir ihm Zeit, dessen Schattenseiten zur Genüge kennenzulernen. Und was ist denn das „Soziale“ an unserer Marktwirtschaft, die sowieso eher Mischwirtschaft (mixed economy) genannt werden müßte? Alle soziale Errungenschaften in der Ex-BRD waren (und sind) Ergebnis jahrzehntelanger, zum Teil mit äußerst harten Bandagen geführter, Klassenkämpfe (ich erinnere zum Beispiel daran, daß Bismarck Sozialistengesetze und die Einführung der Sozialversicherung fast gleichzeitig durchpeitschte). Das „Geniale“ an Erhards Konzeption war zweifelsohne die Erkenntnis, daß der Kapitalismus auf Dauer nur dann überleben kann, wenn die Klassenkämpfe gleichsam ritualisiert und in feste organisatorische Formen gepreßt werden: die Gewerkschaften als Lobbyistenverein, der Streik als Vorstufe der unvermeidlichen Lohnerhöhung, Mitbestimmung etc. (Auch hier darf ich daran erinnern, daß in der BRD der explizit politische Streik immer noch verboten ist.)

Die Schattenseite des Kapitalismus ist der Faschismus, die dunkle Seite des Sozialismus der Stalinismus. Beiden Systemen sind diese Möglichkeiten inhärent. Da nun der Sozialismus als Faktor weitgehend ausgefallen ist, bleibt immer noch das Gespenst des Faschismus, weil der Kapitalismus existiert.

Der Sozialismus als Utopie ist untergegangen, okay, aber wohl noch mehr der Sozialismus als Wissenschaft. Die Marxisten-Leninisten hielten Utopien für „kleinbürgerlich“ oder „anarchistisch“, und wie die Bolschewiki mit ihrer linken Konkurrenz, den Sozialrevolutionären, umgesprungen sind, dürfte denen, die es wissen wollen, ebenfalls nicht unbekannt sein. Auch wenn der „dritte Weg“, der basisdemokratische Antiautoritarismus oder wie immer man es nennen will (in der Postmoderne sind Namen Schall und Rauch), ein Hirngespinst sein sollte, eine regulative Idee im Kantschen Sinne ist er allemal noch, auch wenn dies Leute wie Fücks nicht wahrhaben wollen. Sonst verbleiben wir einzig und allein im Naturschutzpark grünroter „Überzeugungen“, die noch nie einen Herrn Kohl daran gehindert haben, weiterzuregieren. Man muß auch mal überwintern können, oder in den Worten von Peter Rühmkorf: „Bleib erschütterbar — aber widersteh!“ Kurt-Werner Pörtner,

Rüdesheim