Musikalisches Patchwork

Über die New Albion Records, ein kalifornisches Label  ■ Christoph Wagner

Anscheinend führt totales Engagement für eine Sache auf Dauer zu Fluchtphantasien. John Cage kann davon ein Lied singen: „Oft habe ich Merce Cunningham vorgeschlagen, sich zur Ruhe zu setzen, und er fragte: 'Wohin möchtest Du denn?‘ Ich antwortete: 'Nach Bolivien.‘ — 'Aber warum?‘, fragte er. Ich sagte: 'Weil es dort ganz bestimmt niemanden gibt, der sich für moderne Musik interessiert.‘“ Daß Cage seine Ausstiegsträume nicht Wirklichkeit werden ließ, hat ihn vor einer Enttäuschung bewahrt. Denn wahrscheinlich wäre er in La Paz (Bolivien) auf das Ensemble Arawi gestoßen, das sich auf nichts anderes spezialisiert hat als auf die Präsentation neuer Musik. Allerdings setzt Arawi dabei eigene Akzente, was Cage vielleicht wieder versöhnt hätte: Das 45köpfige Orchester spielt auf den einheimischen Volksmusikinstrumenten der Anden —etwa den Jula-Jula-Panflöten, den Tarka-Flöten und der kleinen Charango-Gitarre— neutönerische Werke junger bolivianischer Komponisten und kommt so über einen anderen Weg zu ähnlichen Ergebnissen wie die Neue Musik des europäischen Kulturkreises.

Das Verdienst, diese Klänge in unseren Breiten zugänglich gemacht zu haben, kommt dem amerikanischen New-Albion-Label zu, das sich in letzter Zeit durch einige Produktionen hervorgetan hat. Ausgestattet mit einer gehörigen Portion Nonkonformität und der dazugehörigen Risikobereitschaft, hat die kleine unabhängige Firma aus Kalifornien Schallplatten publiziert, die nicht selten Irritationen auslösten, weil sie Musik enthielten, für deren Kategorisierung noch keine vorgefertigten Schablonen bereitlagen. Um das Programm seines Labels zu kennzeichnen, operiert Foster Reed —Initiator und Motor des Unternehmens— mit dem Begriff der „New Music“, einem Terminus, der in seiner amerikanischen Bedeutung weit mehr umfaßt als in seiner deutschen Übersetzung, nämlich — neben der zeitgenössischen Klassik — genauso die improvisierende Avantgarde nebst Minimal- und Post-Minimalmusik.

Geboren wurde das Label aus dem heiligen Zorn, der Reed erfaßte, als er sich 1984 mit der Kluft konfrontiert sah, die zwischen seiner heißen Liebe zu den neuen Klängen und der eisigen Ablehnungshaltung bestand, die ihm aus dem etablierten Musikbusiness entgegenschlug. „Ich war Musiker und hatte einige Freunde. Aber weder Ingram Marshal noch John Adams noch Paul Dresher konnten eine Schallplatte machen. Ich hatte etwas Geld geerbt und dachte, daß ich ihnen helfen könnte. Wir produzierten also die Schallplatten und einige davon waren sehr gut. Doch kein Mensch wollte sie vertreiben. Das machte mich rasend. Deshalb gründete ich die Firma.“ Die Komponisten, die in der Gründungsphase den New-Albion-Sound prägten, kamen alle aus der Tradition der klassischen Musik. Sie hatten am Konservatorium studiert, trugen aber schon den Glaubenszweifel an der seriellen Musik mit sich herum. Die Frage, die sie sich stellten, lautete: Was kommt nach der seriellen Musik? Eine der Antworten, die sie fanden, hieß: Minimalmusik — weitere kamen dazu. „Ich schaute mich nach Musik um, die aus dem Jazz kam, aus der improvisierten Tradition, und dann guckten wir: Was ist weder Jazz noch klassische Musik? und stießen auf Klänge mit einer ganz anderen Tradition, auf Leute wie David Hykes und Stuart Dempster“, erklärt Foster Reed.

Bei den Platten dieser beiden Künstler stellen sich Assoziationen zur New-Age-Musik ein. Foster Reed: „Wenn es nicht so ein greuliches Wort wäre, würde ich es schon New Age nennen — im besten alten Sinne. Aber die Schallplattenindustrie hat alles kaputt gemacht, was an diesem Begriff interessant war.“ Man spürt, daß hier ein Angehöriger der Woodstock-Generation spricht, der seine Ideale noch nicht ad acta gelegt hat. „Geschichtlich war New Age ein Versuch, der aus der Rebellion der sechziger Jahre kam. Da war der Gedanke, daß die Menschen sich zum Besseren wandeln würden, um eine neue Welt zu schaffen. Man dachte über Wege nach, Dinge anders zu tun. Das war die Zeit der Kommunen und eines alternativen Kulturkonzepts, das getragen wurde von der Idee eines neuen Zeitalters. In der Musik gab es Leute, die Neues versuchten. Als eines der Elemente dieser Bewegung populär wurde, kopierte es die Plattenindustrie, um Geld zu machen, und das Wort New Age wurde ein Terminus der Industrie. Die Musik wurde enger und enger, bis sie am Schluß nur noch Hintergrundgesäusel war, Muzak, Klangtapete. Ich bin der Auffassung, daß vieles von damals sehr authentisch war und daß heute noch gute Ideen aus diesem Bereich kommen.“

Doch auch bei der New-Age-Musik blieb Foster Reeds Neugierde nicht stehen. Die Bereitschaft wuchs, einmal über den Tellerrand der eigenen Kultur hinauszublicken. „Ich öffnete die Tür zur improvisierten Musik, zu den New-Age-Sounds und merkte auf einmal, daß da noch eine andere Tür geöffnet werden müßte— die zu den Traditionen außerhalb Europas. Sechs Monate später wurde mir die bolivianische Gruppe Arawi empfohlen, und ihre Geschichte begann mich zu interessieren. Ich fühlte, daß es wichtig wäre, dort hinzugehen und Aufnahmen zu machen.“

Diese Neue Musik aus der Dritten Welt komplettierte die buntfleckige Patchworkarbeit, als die sich der New-Albion-Katalog darstellt. Neben New Age, Neuer Musik (Morton Feldman, Stockhausen), Minimal und Jazz (Rova Saxophon Quartet, Braxton) gibt es auch Musik des Außenseiters Lou Harrison und Klänge des 14. Jahrhunderts, gespielt von der Gruppe Pan. „Heute gibt es glücklicherweise keine Ideologie mehr, die regiert. Wir befinden uns in einer Zeit der grundsätzlichen Verwirrung. Es gibt nicht mehr nur eine Schule. Kreative Leute finden ihre eigene Sprache, ohne sich auf eine Schule oder eine Richtung zu berufen.“

The poetry in music hat Foster Reed als Motto für sein Label gewählt, was sagen soll: aggressive Klänge und aufgekratzte Schrillheiten sind unsere Sache nicht. Wir sind auf der Suche nach der lyrischen Seite der Atonalität. Reed: „Uns interessieren Platten als Objekte der Schönheit. Gleichzeitig sollten sie spannend sein. Der Weg, den wir suchen, liegt auf dieser Linie: zwischen schön und interessant. Unsere musikalische Sprache ist eine andere als die der Plattenindustrie. Wir wollen notwendige Dinge tun, Musik veröffentlichen, die eine ästhetische Aussage macht. New Albion ist der Versuch, die poetische Vorstellungskraft in Musik auszudrücken. Jede gute Platte muß dieses Moment von Magie besitzen. Danach suchen wir.“