Tadeusz in der Höhle des Löwen

■ Präsidentschaftskandidat Mazowiecki in Gdansk, der Hochburg seines Gegners/ Der Kandidat sucht ohne Wahlversprechen auszukommen/ Vergebliche Versuche, sich aus der Defensive zu befreien/ Die Richtung des Wahlkampfes bestimmt Walesa/ Wählerbefragungen zufolge sinkt Mazowieckis Stern

Aus Gdansk Klaus Bachmann

Alle Ampeln ausgeschaltet, an jeder Kreuzung ein kleiner Trupp Polizisten — kein Zweifel, ein wichtiger Gast ist in der Stadt. Aus der Art und Weise, wie ganz Gdansk zuplakatiert ist, kann man nur schließen, daß es sich um Lech Walesa handelt: „Ja für Lech Walesa“, „Wählt Walesa“ hängt in riesiger rot-weißer Aufschrift über den Straßen, in den Fenstern Fotographien des Gewerkschaftsführers, einzelne Werbetrupps verteilen Flugblätter für Walesa. Kein Zweifel — „Gdansk wählt Walesa“, wie es auf einem der Plakate heißt.

Doch heute ist Premier Mazowiecki zu Besuch, einen Nachmittag lang besucht er Gdingen, legt Blumen am Denkmal der 1970 erschossenen Werftarbeiter nieder, trifft sich mit dem örtlichen Bischof und debattiert am Abend mit Studenten des Politechnikums.

Große Volksversammlungen wie bei Walesa sind nicht vorgesehen, Mazowiecki weiß, daß er sich nicht zum Volkstribun eignet. Aus Furcht, ihr Kandidat werde vor leeren Rängen sprechen, haben die Veranstalter einen kleinen Uni-Saal gemietet. Doch der ist schon eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung völlig überfüllt. Mazowiecki kann auf die Jugend zählen.

Kaum hat er den Fuß in den Saal gesetzt, beginnen minutenlange rhythmische Ovationen. Eine Ansagerin sagt zur Begrüßung salbungsvoll ein Lobgedicht auf den „großen Premier und Staatsmann“ auf, der Überfüllung wegen ist nicht zu erkennen, ob dieser sich geschmeichelt oder peinlich berührt fühlt. Aber bald wird deutlich daß sogar an diesem Abend nicht er, sondern Walesa im Mittelpunkt steht: Über die Hälfte der Fragen, die an Mazowiecki gerichtet werden, betreffen seine Interpretation von Walesas Verhalten. Hat Walesa ein Programm, ist er ein Despot, ist er größenwahnsinnig, was wird, wenn Walesa gewinnt, was, wenn er verliert — so geht es über eine Stunde lang.

Mazowiecki attackiert dann auch seinen Gegner: „Ich muß etwas härter polemisieren“, verkündet er, „nach all den Angriffen auf mich“. Er zählt die Fälle auf, in denen sein Gegner sich in letzter Zeit selbst widersprochen hat: „Für Privatisierung ist er, aber gegen Arbeitslosigkeit, für Balcerowicz als Finanzminister, aber gegen dessen Programm, für ausländische Hilfe, aber gegen Schuldenrückzahlung.“ Letzteres hat zuletzt einer von Walesas Beratern, der Lubliner Wirtschaftsprofessor Kurowski gefordert. „Ich werde keine leichtfertigen Versprechungen machen“, ruft Mazowiecki, „und ich kann nicht versprechen, daß der Weg, den ich gehen will, leicht sein wird“.

Sein letztes Versprechen, eine Berufsarmee einzurichten und die allgemeine Wehrpflicht abzuschaffen, wurde gerade einen Tag zuvor von der Führung des Verteidigungsministeriums als unfinanzierbar verworfen. Davon abgesehen hat man von Polens Premier tatsächlich keine Wahlversprechen gehört — ein Grund, warum Mazowiecki gegenüber seinen Mitbewerbern immer weiter in die Defensive gerät. Den letzten Umfragen zufolge, die immerhin vom staatlichen Fernsehen in Auftrag gegeben und verbreitet wurden, entfallen auf Walesa über 40% der Wählerstimmen, auf Mazowiecki dagegen weniger als 20%. Stanislaw Tyminski, ein kanadischer Millionär polnischer Abstammung, der als unabhängiger Kandidat antritt, liegt nur zwei Prozentpunkte hinter Mazowiecki.

Mazowiecki sei zu farblos, zu gemäßigt, zu wenig charismatisch, kritisieren selbst seine Anhänger inzwischen. Wenn er polemisiert, nennt er selten Roß und Reiter, seine Reden trägt er mit müder Stimme und langen Pausen zwischen den Sätzen vor. Er lächelt selten, statt Optimismus verbreitet er Melancholie. Es sieht ganz so aus, als habe man ihn gezwungen, zu kandidieren. Immerhin: Nach Walesas Angriffen auf seine Person hat er endlich aufgehört, jeder Kritik an dem Gdansker Gewerkschaftsführer eine Ehrenerklärung über dessen Verdienste voranzustellen.

Das Tischtuch zwischen beiden ist zerschnitten: „Eines muß allen klar sein: Am Tag der Vereidigung Walesas als Präsidenten trete ich als Premier zurück“, gibt er sich, ausnahmsweise, kompromißlos. Doch schon die Tatsache, daß auch er sich während der Debatte zumeist mit seinem Gegner, dessen Fehlern und Äußerungen beschäftigt, statt eigene Konzepte vorzutragen, zeigt, daß Mazowiecki in der Defensive ist.

Es ist Walesa, der die Richtung des Wahlkampfes angibt, Walesa, der den Wahlkampf mal anheizt, mal entkrampft und der Wahlkampf scheint sich trotz der sechs Kandidaten, die angetreten sind, doch immer mehr zu einem Plebiszit für oder gegen Walesa zu entwickeln. Mazowiecki hat dem wenig entgegenzusetzen.

Ein Programm verkündet er nicht, sieht man von seinem umständlich vorgetragenen Bekenntnis zu Europa, der liberalen Demokratie, zu Toleranz und Pluralismus ab. Im Gegensatz zu seinen Gegnern braucht Mazowiecki auch nicht mehr. Man weiß, sein Programm heißt schlicht „ausdauernd voran“, wie es auch in seinen Wahlkampfbroschüren nachzulesen ist. Das gleiche wie bisher, nur vielleicht ein bischen besser. Das ist zugleich auch Mazowieckis Minus: seine Fehler kennt man schon.

So kann Walesa angreifen, Mazowiecki muß sich verteidigen. Der Gdansker Gewerkschaftschef dagegen bietet kaum Angriffsflächen und so, prophezeit Mazowiecki, werde es auch mit einem Präsidenten Walesa sein: „Demokratie ist nicht, wenn ein Einzelner über allem thront und freie Hand, aber keine Verantwortung hat und dafür diejenigen, die die Verantwortung auf sich nehmen, als Stoßdämpfer benutzt.“ Da schimmert auch ein Stück persönliche Betroffenheit durch, hatte doch Walesa Mazowiecki zum Premier vorgeschlagen — jetzt ist er der Sündenbock. Die Angriffe, die Walesa damit geradezu herausfordert, überläßt Mazowiecki seinen Mitstreitern: Marek Dabrowski, sein Wirtschaftsberater wirft Walesa vor, mit seinen „Beschleunigungsschlagworten“ Polens Gläubiger zu erschrecken: „Ohne das wären wir mit den Umschuldungsverhandlungen schon viel weiter.“

Mazowiecki spricht in seiner Rede zwar von der Gefahr einer Balkanisierung Polens, aber den Zusammenhang mit Walesas Kandidatur herzustellen, das überläßt er seinen Zuhörern. In Gdansk, für ihn „die Höhle des Löwen“ wie manche Beobachter vorher meinten, gibt er sich etwas kämpferischer als anderswo, doch den Eindruck von Resignation verwischt das nicht. Tadeusz, so soll er auf einer anderen Veranstaltung gesagt haben, das sei ja der Schutzpatron der Verlierer.