Die Kruzifikation der Identität

■ Peter Weibel, ein Querdenker

Im Oktober nahm das Frankfurter Institut für Neue Medien, in Deutschland eines der ersten dieser Art, seine Lehrtätigkeit auf. Gründungsdirektor ist der aus Wien stammende Videokünstler und Medientheoretiker Peter Weibel. Weibel war Professor für Medienkunst an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien. Eine Gastprofessur für Fotografie führte ihn an die Gesamthochschule Kassel. Weitere Gastprofessuren absolvierte er unter anderem in Paris, Halifax/Kanada, Los Angeles und New York.

Trotz offizieller akademischer Würde bleibt Weibel ein Querdenker. Als anarchistischer Künstler wetterte er in den 70ern mit „virtuellen Massakern“, „organisierten Verkehrsunfällen“ und einem „Kriegsfeldzug“ wider das Publikum gegen das Recycling des Immergleichen in der Kunst.

Weibel sieht sich in der Tradition des „Wiener Kreises“, von Ludwig Wittgenstein bis Ernst Mach und daher auch einem mathematisch-formalisierten, fachübergreifenden Denken verpflichtet. Ausgangspunkt sowohl seiner künstlerischen wie auch theoretischen Arbeiten ist das Problem, daß der beherrschende Umgang mit telekommunikativen Medien mehr Allgemeinbildung und Überblick voraussetzt. Das heiß, daß nur aus dem fachübergreifenden Vergleich von Strukturen und Vorgängen noch die Chance erwächst, künstlerisch kreativ mit den neuen Medien umzugehen.

Peter Weibel, 1945 in Odessa, UdSSR, geboren, Veranstalter der „Ars Electronica“ in Linz und des Bereichs „Virtuelle Architektur“ beim „steierischen herbst“ in Graz, verfolgte die Entwicklung des jüngsten audiovisuellen Mediums, Video, von den Kinderschuhen an. Er begann bereits 1969 mit Bändern zu arbeiten. Aus der Erkenntnis programmatischer Vermittlung zwischen ästhetischen und theoretischen Inhalten heraus konstruierte er 1973 die beispielhafte Video-Installation „Die Kruzifikation der Identität“, einer „Closed- Circuit“-Anordnung, in der der Betrachter Teil der Installation wird. Auf originelle, verblüffende und auch etwas scherzhaft-ironische Weise schließt sich hier ein Kreislauf: der zwischen Medium und Individuum. Das radikal Neue, das hier ebenso augenzwinkernd wie programmatisch vorgeführt wird, ist der (in den Massenmedien unreflektiert als selbstverständlich hingenommene) Umstand, daß die traditionelle Perspektive (auf Kunst) aufgelöst ist. Der Betrachter gewinnt sein ästhetisches Urteil gegenüber dem Kunstwerk nicht mehr aus der klassischen Distanz, die er zum Beispiel gegenüber einem Tafelbild einnimmt. Das Subjekt reduziert sich, überspitzt formuliert, auf die Funktion des Pawlowschen Hundes.

Dennoch hält Weibel an einem emanzipatorischen Potential neuer (Medien-)Technologie fest. Um dieses Potential freizusetzen, sollen Aufbau und Funktion technischer Apparaturen sowie ihre Einsatzfelder analytisch ergründet werden. Nach Weibels Ansicht lassen sich technologische Zusammenhänge und Strukturen in fachfremden Gebieten wiederfinden, wo sie, in anderen Termini formuliert, analoge Zusammenhänge beschreiben. Das Aufspüren solch interdisziplinärer Zusammenhänge ist Teil des Lehrplanes. Im Zeitalter der Fachidiotie setzt Weibel also auf das ökonomisch überkommene Ideal des Universal-Gelehrten. Überspitzt formuliert würde Weibel seine Studenten gerne erst Mal auf den Hof schicken, um das Getriebe beim Golf zu wechseln oder auf den Fußballplatz, um eine gute Flanke zu schlagen, ehe er sie in Atari-Tasttatur-Hospitalismus versinken läßt.

Ein Forschungskomplex des Instituts, der bei einfachen Sinnestäuschungen wie denen des Zeichners M. C. Escher beginnt und in den virtuellen Computersimulationen mit Ganzkörper-Glasfaser-Datenanzügen endet, bezieht sich auf derartig imaginäre Körper und Räume, wo die natürliche Wahrnehmung „realer“ Elemente von der medialen Meta-Wahrnehmung „irrealer“ Elemente getäuscht und übertrumpft wird. Da die Erforschung dieser Gebiete für ein Institut naturgemäß mit der Anschaffung kostspieliger Apparaturen verbunden ist, gibt es bislang kaum Einrichtungen dieser Art. Die Bankenstadt Frankfurt jedoch hat es möglich gemacht, daß Weibel mit einem Stab aus internationalen Lehrkräften dort seine Zelte aufschlagen konnte. Manfred Riepe