Im Namen der Kamera

■ Rumänien im Winter 89 — Oder war die Revolution nur eine Mediensimulation? Eine Podiumsdiskussion in Mannheim

Anfang dieses Jahres wurde bekannt, daß die Leichen von Temesvar keine Opfer der rumänischen Revolution, sondern ein Arrangement für die Fernsehkameras der Welt gewesen sind. Einige Monate später entpuppte sich das Bild des exekutierten Ehepaares Ceausescu ebenfalls als inszeniertes, und die Medien befanden sich mitten in einer Debatte über die Rolle, die sie während des Geschichte machenden Ereignisses gespielt hatten. War es etwa gar kein Ereignis gewesen, sondern nur eine mediale Inszenierung? Diese Frage beschäftigte auch Medienwissenschaftler auf einer Podiumsdiskussion, die am vergangenen Wochenende in Mannheim stattfand. Denn in welchem Ausmaß täuscht das Festhalten des Ereignisses falsche Wirklichkeiten vor, so daß man fragen muß: Hat sich überhaupt etwas ereignet? Und wenn ja, hatte der Zuschauer am Bildschirm die Freiheit, zwischen dem Ereignis und dem Bild vom Ereignis zu unterscheiden?

Im Kern geht es dabei um die Frage, ob das technisch reproduzierte Bild seinem Wesen nach anti- aufklärerisch ist, ob es verschleiert oder Ereignisse erhellt. Für Vilem Flusser, Kommunikationsphilosoph an der Universität Sao Paulo, stellt sich diese Frage heute nicht mehr, da die Differenz von Ereignis und Bild nicht mehr existent ist. Alles ist Bild, Inszenierung oder - Simulation, wie das Zauberwort der Medienwissenschaftler heißt.

Die Kamera registriert nicht als neutrale Maschine, sondern hat sich längst vor den Strom der Geschichte gestellt, saugt sie auf. Und mit Rumänien, so Flusser, wurde ein neues Kapitel im Buch der medialen Täuschung aufgeschlagen: Die Kamera steht jetzt hinter der Geschichte und produziert sie. Die Folge: der Tod der Geschichte.

Nachdem auf der Podiumsdiskussion bereits vom Tod der Politik und der Schriftkultur die Rede gewesen war, beklagte Flusser das dritte Opfer. Für den Exitus sei in allen Fällen das maschinell reproduzierte Bild verantwortlich. Flussers These bestimmte die Diskussion, Widerspruch gegen die Medien-Kassandra kam von verschiedenen Seiten. Für Friedrich Kittler, Bochumer Literaturprofessor und Medienforscher, hatte der Kommunikationsphilosoph aus Sao Paulo seine Simulationstheorie überstrapaziert. Professor Jochen Hörisch aus Mannheim warf die Frage auf, ob ein TV-Bild nicht doch verläßlicher sei als eine 'FAZ‘-Meldung.

Man mag Flusser auch deshalb nicht in letzter Konsequenz folgen, weil er die Funktion des elektronischen Mediums in unserer Zeit zu generalisierend bewertet. Oder gelten für das Gladbecker Geiseldrama nicht andere inszenatorische Grundbedingungen als für Rumänien? Und wenn jetzt der amerikanische Medienriese CNN einen Exklusivvertrag mit Sadam Hussein abschloß, muß die Kamera noch lange nicht zum eigentlichen Akteur der Geschichte im Nahen Osten werden.

Außerdem passierte es selbst in Rumänien, daß die Inszenierung nicht glückte und die Kamera unversehens zum Instrument der Aufklärung wurde, und zwar als Ceaucescu in seiner legendären Balkonrede ausgebuht wurde und alle Welt sein Erschrecken, seine hilflos-herrische Geste der Beschwichtigung sehen konnte. Daß die Kamera in Rumänien dennoch weitgehend zum Akteur im Lauf der Dinge wurde, belegen die Mannheimer Medienwissenschaftler Hubertus von Amelunxen und Andrei Ujica in ihrem Buch Televison/Revolution — Das Ultimatum des Bildes, das die Grundlage der Podiumsdiskussion bildete.

Aufschlußreich ihre Analyse der Kameraeinstellungen während des Prozesses gegen Nico Ceausescu. Ihr Fazit: In der medialen Simulation der klassischen Gerichtssituation - anders als zum Zeitpunkt des Prozesses gegen das Ehepaar Ceausescu, da in der anarchischen Sekunde der Revolution eher gelyncht als gerichtet wurde - übernahm die Kamera hier die Rolle der Öffentlichkeit. Gerichtet wurde nicht ihm Namen Gottes, der Menschenrechte oder des Volkes, sondern — der Kamera.

Es kam bei der Mannheimer Veranstaltung nicht zur Diskussion der unterschiedlichen Funktionen, die die Fernsehkamera anläßlich unterschiedlicher historischer Ereignisse innehatte. Zu sehr faszinierten die Details der rumänischen Revolution. Die wissenschaftliche Disziplin der Medienforschung ist noch jung und kämpft mit der gleichen Schwierigkeit wie das elektronische Medium selbst: Fast schon atemlos soll die Theorienbildung auf die Ereignisse und ihre mediale Verarbeitung reagieren. Jürgen Berger