Keine Melodie

■ „Nouvelle Vague“, der neue Film von Jean-Luc Godard

Nur einmal fährt die Kamera nach oben. Erst den Baumstamm, dann einen der Äste entlang, langsam, zögernd — als sei es ungerecht, daß eben dieser eine Ast im Bild ist und die anderen nicht. Sonst fährt die Kamera immer waagerecht: im Park an den Hecken mit den letzten Herbstblumen oder im Restaurant an den Tischen vorbei, und einmal, in einem der schönsten Momente des Films, draußen an den Fenstern entlang, als das Dienstmädchen nachts in den Zimmern die Lichter löscht. Eins nach dem andern wird dunkel, bis die Leinwand schwarz daliegt, und man fürchtet sich im Finstern, bis endlich wieder Licht fällt. Bei Godard ist Kino ein Trost.

„Alle Personen im Film sind gleich, aber manche sieht man mehr als andere. Wir leben in einer Demokratie, da ist das so“, sagt Godard. Nicht nur die Kamera fährt parallel, nicht nur die Personen sind gleich. Meistens sprechen mehrere Stimmen gleichzeitig, klingen Dialog, Musik und Geräusche zusammen. Weder erläutert der Text die Bilder, noch illustrieren die Bilder den Text: der Wind in den Blättern, der traurige Blick von Alain Delon, die Wellen des Sees, ein Zitat von Jean Paul, die blonde Haarsträhne von Domiziana Giordano — nichts, was Vorrang hätte oder das Bild beherrschte. Godard stellt die Bilder radikal gleich und die Wörter auch und gibt ihnen damit die Freiheit.

„Ich kann nicht erzählen“, sagt Godard, aber das stimmt nicht. Er will nicht erzählen, jedenfalls nicht eine Geschichte auf Kosten der vielen, die wegen dieser einen dann verschwiegen würden. Zwar gibt es so etwas wie eine Handlung: Eine schöne, reiche Gräfin (Domiziana Giordano) liest von der Straße einen Unbekannten auf (Alain Delon) und verliebt sich in ihn. Auf einer Bootsfahrt zieht sie ihn ins Wasser, er kann nicht schwimmen und versinkt in den Wellen. Dann taucht sein Bruder auf (Alain Delon) oder vielleicht ist es auch derselbe, nur ist er diesmal nicht melancholisch und stumm, sondern ein tüchtiger Geschäftsmann — Delon, der Star, wie man ihn kennt. Sie verliebt sich in ihn, auf einer Bootsfahrt zieht er sie ins Wasser, sie versinkt in den Wellen, aber er reicht ihr die Hand. „Das warst du?“, sagt sie.

Nouvelle Vague — eine Liebesgeschichte. Aber zugleich die Geschichte der Wellen. Und die Geschichte der Dienstleute der Gräfin: des Gärtners, der Kellnerin, der Pressefrau, des Chauffeurs, des Anwalts. Die Geschichte von arm und reich, die Geschichte des Hundegebells, des glänzenden Autolacks, die Geschichte des Parks, des Baums, der Blätter, wie sie im Herbstwind zittern. Die Geschichte des Kinos und der Literatur. Jeder Satz ist Zitat: Aristoteles, Schiller, Howard Hawks, Kafka, Marx, sowohl Groucho als auch Karl. Sentenzen, Aphorismen, Sinnsprüche zu Hauf. Auch die Personen sind Zitate, aus Filmen, aus Romanen — Spielereien eines Filmemachers, der nicht länger mehr Macher sein will. „Ich habe diesen Film nicht gemacht“, sagt der Regisseur; Godards Name steht nicht im Vorspann. Wie ein Netz von Bedeutungen legen sich die Zitate über den Film — man kann sich darin verfangen und verlieren. Keine Melodie. Eine Symphonie der Nebenstimmen: Debussy, nicht Bach.

Man darf das nicht mit Gleichgültigkeit verwechseln, Godard ist alles andere als neutral. Er ist verliebt, verliebt in die Schönheit. Es ist die Schönheit, vor der alle gleich sind: man kann sie nicht machen, sie ist einfach da. Die Schönheit der Blässe von Domiziana Giordanos Gesicht. Die Schönheit des Parks am See, die Schönheit der Wolke, die sich vor die Sonne schiebt. Die Schönheit eines Verses. Ein weißes Pferd. Ein Mercedes. Ein Toyota. Ein Maserati.

Der Gärtner pflegt den Park. Der Chauffeur pflegt den Wagen. Godard pflegt den Film: Er umgibt die Dinge, die Personen, die Worte mit einer Aura, einer unsichtbaren, schützenden Hülle. Man merkt es, wenn zwei aufeinander zugehen, wenn Delon und Giordano einander berühren. Sie küßt ihn, aber vorher bindet sie Delon ein weißes Tuch um den Mund, als wisse sie, daß eine Grenze überschritten, eine Hülle verletzt wird, wenn man liebt.

„Was machen Sie hier?“, wird Delon am Anfang gefragt, als er stumm und traurig in der Fabrik steht. „Je fait pitié“, sagt er, „ich tue leid“. Die Männer machen einen jämmerlichen Eindruck, denn die Schönheit ist weiblich. Das Gesicht Domiziana Giordanos, die weiße Haut, der rote Mund, die grünen Augen, das schimmernde blonde Haar — ein Botticelli-Gesicht in Großaufnahme. Das Gemälde wird lebendig. Plötzlich gewahrt man, daß die Augen deshalb so schön sind, weil die Wimpern manchmal schlagen, weil man sie also einen Moment lang nicht sieht. Die Lippen öffnen sich leicht — und wieder ist es die Bewegung, die dem Mund seine Schönheit verleiht. Bei Godard ist Schönheit immer etwas lebendiges, etwas, das sich bewegt. Vielleicht macht er deshalb Filme und keine Bilder.

Schon in Le Mepris mußten die Männer mit all ihrem Arbeiten und ihrer Geschäftigkeit angesichts der Schönheit von Brigitte Bardot kapitulieren. Diesmal ist es der Film selbst, der freimütig seine Fassungslosigkeit gesteht, seine Ehrfurcht. Nouvelle Vague ist Godards Hymne an die Schönheit, sein Zeugnis, sein Glaubensbekenntnis. Der Mann mag ertrinken, die Frau muß gerettet werden. Wer diesen Glauben nicht teilt, der wird mit Nouvelle Vague nichts anzufangen wissen. Christiane Peitz

Jean-Luc Godard: Nouvelle Vague, mit Alain Delon, Domiziana Giordano, Frankreich/Schweiz 1990, ca. 90 Min.