„Polen wird nicht das dunkle, feuchte Kabuff Europas sein“

■ Lech Walesa, Präsident von Solidarność, zum Vorwurf des Antisemitismus und zu seinen wirtschaftspolitischen Vorstellungen INTERVIEW

Am Sonntag finden in Polen Präsidentschaftswahlen statt. Neben Regierungschef Tadeusz Mazowiecki bewirbt sich Lech Walesa, Präsident von Solidarność, um das höchste Amt im Staat. Allen Umfragen zufolge ist er aussichtsreichster Kandidat. Die französische Tageszeitung 'Libération‘ interviewte ihn vor wenigen Tagen.

Frage: Sie haben gesagt, Sie seien stolz, ein Pole reiner Abstammung zu sein. Was ist ein Pole unreiner Abstammung?

Lech Walesa: Ich gebe zu, das war ungeschickt ausgedrückt, und das wird nun von meinen Gegnern ausgiebig ausgenützt. Trotzdem: Ich bin mit meinem ganzen Charakter zufrieden (...) Ich bin stolz, ein hundertprozentiger Pole zu sein. Aber wenn ich ein hundertprozentiger Jude wäre, wäre ich auch darüber stolz und glücklich. Ich sage das sehr aufrichtig. Mein Glaube sagt mir, daß das jüdische Volk von Gott auserwählt ist, und deshalb liebe ich es. Aber es gibt jüdische Politiker, die mich im Verlauf dieser Wahlkampagne hart bekämpfen. Und ich sie genauso. Jene kann ich gewiß nicht lieben, und das sage ich ohne Heuchelei. Ich wiederhole also: Es gibt gute und schlechte Juden, wie es in der polnischen Gesellschaft Gutes und Schlechtes gibt (...)

Sie geben sprachliche Entgleisungen zu, aber Sie begehen immer wieder neue. Empfinden Sie ein Kommunikationsproblem?

Nein. Ich drücke mich mit Metaphern, mit Bildern aus, und deren negative Interpretation durch meine Gegner ist Teil des Wahlkampfes. So habe ich jüngst gesagt, manchmal hätte ich Lust, gewissen Intellektuellen den Hintern zu versohlen. Ich wollte bezogen auf Wajda und Szczypiorski [Dramaturg und Schriftsteller, A.d.R.] einfach sagen, daß sie brillante Kunstschaffende sind, aber nichtssagend, sobald sie sich in die Politik einmischen. Ich wende mich an die einfachen Leute, ich wende mich vor allem an eine eingeschlafene polnische Gesellschaft. Also provoziere ich, ich rege mich auf, ich lanciere eindringliche Bilder, um sie aufzuwecken.

Sie machen sich für die Privatisierung stark, aber lehnen Entlassungen ab. Sie lehnen es ab, Polen zu verkaufen, aber Sie fordern eine Erhöhung des monatlichen Arbeiterlohnes um 100.000 Zloty [zehn Prozent des Durchschnittslohnes, A.d.R.]. Solche Widersprüche lassen die amtierenden Minister in die Luft gehen. Was werfen Sie der aktuellen Regierung eigentlich vor?

Sagen wir es deutlich: Die Reform Balcerowicz geht in die richtige Richtung. Aber man muß ihre Effizienz erhöhen. Sie wird mit einer zu westlichen, zu harten, zu langsamen Logik geführt. Sicher wird man Unternehmen schließen müssen, wenn sich gleichzeitig das Privat-Busineß entwickelt. Ich wiederhole, das Erdgeschoß aller polnischen Häuser muß einer Privatproduktion dienen, die Kongreßsäle müssen Modeschauen dienen... Das sind Bilder. Man muß die Ärmel hochkrempeln, bevor man daran denkt, alles zu liquidieren. Das ist es, was die Großkopfeten nicht begreifen. Die tun ihre Arbeit, als ob um sie herum sich nichts verändert hätte. Aber das Geld des Westens biegt in Richtung Sowjetunion ab. Die Wiedervereinigung wird Deutschland sehr viel Geld kosten. Die Irak-Krise hat unvorhersehbare Konsequenzen. Da kann man es sich doch bei uns nicht erlauben, die Tore einer Fabrik oder einer Kooperative zu schließen, ohne gleichzeitig ein neues Tor aufzumachen.

Sie erwähnen Europa kaum, zu einer Zeit, in der alle Politiker daraus ein Credo machen...

Der Hase wählt sein Feld, ohne sich darum zu kümmern, ob es auf deutschem, polnischem oder russischem Boden liegt. Aber es gibt zur Zeit ein Problem kommunizierender Röhren. Wenn ich gefordert habe, daß die Beteiligung der Ausländer bei Joint-ventures nicht mehr als 49 Prozent betragen darf, dann deshalb, weil Polen nicht zum Schleuderpreis verkauft werden darf (...) Polen wird nicht das dunkle, feuchte Kabuff des europäischen Hauses sein.

Fürchten Sie nicht, daß diese populistische Sprache die Jugend enttäuscht, ohne die ja nichts aufgebaut werden kann?

Lech Walesa ist kein Populist. Ich habe den Jungen Vorschläge zu machen. Ich werde ihnen sagen: Die Lage wird noch schlimmer werden, wenn Polen nicht die Ärmel hochkrempelt. Nicht nur der Staat, sondern jeder von euch. Und ich werde ihnen sagen: „Macht Geld, und das Land wird Geld machen. Sagt mir, was ihr unternehmen wollt, um das Doppelte von dem zu verdienen, was ihr heute verdient. Ich werde es nicht an eurer Stelle tun können, aber ich werde euch helfen können.“ Sie werden mich verstehen und nicht mehr daran denken, das Land zu verlassen.

Viele ihrer alten Kameraden von Solidarność bedauern, daß Sie so schlecht beraten werden.

Diejenigen, die behaupten, ich werde heute schlecht beraten, sind dieselben, die mir rieten, den Runden Tisch nicht zu akzeptieren. Wenn Lech Walesa auf ihre Ratschläge gehört hätte, wären sie jetzt nicht an der Macht. Diese alten Kollegen würden mir gerne eher eine symbolische und prestigeträchtige Rolle zuschanzen. Eine solche wäre für mich nach all diesen schwierigen Jahren sehr viel angenehmer. Denn diese Präsidentschaft wird eine undankbare, anstrengende Aufgabe voller Unannehmlichkeiten sein. Ich weiß, daß diese Präsidentschaft mein Leben um die Hälfte verkürzen wird. Aber Lech Walesa will die Reformen, für die er sich seit 20 Jahren einsetzt, zu Ende bringen.

In Westeuropa, wo viele einen Sieg Mazowieckis wünschen, verlieren Sie an Image.

Viele alten Kollegen haben mich verlassen und haben nun gute Beziehungen zu den westlichen Medien (...) Jedenfalls ist es ein politisches Gesetz, im benachbarten Land die Wahl des schwächsten Kandidaten zu wünschen.

Adam Michnick und andere behaupten, daß die Qualitäten eines großen Oppositionsführers nicht unbedingt diejenigen eines großen Staatspräsidenten sind.

Meine Gegner machen sich über meine grammatikalischen Fehler lustig. Sie werfen mir vor, daß ich nie studiert habe und deshalb unfähig sei, mich mit dicken staatlichen Aktenordnern zu beschäftigen. Sie haben in gewisser Weise recht. Ich wäre ein sehr schlechter Direktor oder Minister. Aber ich will mich nicht mit Aktenordnern beschäftigen. Dafür gibt es kompetentere Leute als mich. Ich werde dem Land meine Stärken zur Verfügung stellen: eine große Erfahrung und eine große politische Intuitionsgabe, die bereits Polen aus der kommunistischen Ära herausgerissen haben.

Interview: Jean Hatzfeld. Gekürzt. Aus 'Libération‘, 17./18. 11. '90. Übersetzung: thos.