Die Affäre Milde ist eine Affäre Staatskanzlei

Der Führungsspitze der hessischen Union sitzt die Staatsanwaltschaft im Nacken/ Wallmann opferte Milde, um acht Wochen vor der Wahl den eigenen Kopf zu retten/ Joschka Fischer freut sich auf „Striptease auf der Regierungsbank“  ■ Von K.-P. Klingelschmitt

Frankfurt/Wiesbaden (taz) — Am 22. Oktober 1990 saßen sechs Männer im Wohnzimmer des hessischen Innenministers Gottfried Milde: Ministerpräsident Walter Wallmann und sein Regierungssprecher Rolf Müller, der Chef der Staatskanzlei, Alexander Gauland, Büroleiter Wolfgang Sammler, CDU-Fraktionssprecher Dirk Metz und eben der Hausherr Gottfried Milde. Sie wollten die für den übernächsten Tag terminierte Plenarsitzung des hessischen Landtages vorbereiten, die — so die Befürchtung der versammelten Unionisten — von der Opposition zur „Demontage des Ministerpräsidenten“ mißbraucht werden sollte. Durch die Medien war nämlich gerade „Paule“ gegeistert, ein V-Mann der Frankfurter Polizei, der ausgesagt hatte, daß er persönlich Walter Wallmann zur Villa der „Beker- Brothers“ chauffiert habe — zum konspirativen Treff mit den unter der Anklage der Bildung einer kriminellen Vereinigung stehenden Unterweltkönigen. Wallmann hatte immer dementiert, persönliche Kontakte zu den Brüdern unterhalten zu haben.

Doch ein wiederholtes schlichtes Dementi der Aussagen „Paules“ durch den Ministerpräsidenten war den führenden Köpfen der hessischen Union offenbar zu defensiv für die erwartete Schlammschlacht im Landtag. Man beschloß, in die Offensive zu gehen — und da kam das Wortprotokoll einer im Auftrag der Staatsanwaltschaft durchgeführten Abhöraktion des BKA gerade recht. Aus diesem Protokoll gehe nämlich — so Milde dann zwei Tage später vor dem Landtag — klar hervor, daß ein Journalist des 'Stern‘ dem Anwalt von Hersch Beker 150.000 DM für den Fall angeboten habe, daß Beker ihm handfeste Informationen rüberschiebe, mit denen Ministerpräsident Wallmann später diskreditiert werden könne: für die Herren ein Beleg dafür, daß Wallmann von der „linken Kampfpresse“ noch vor der Hessenwahl in acht Wochen fertiggemacht werden sollte. Daß in Wahrheit der abgehörte Rechtsanwalt vom 'Stern‘ 150.000 DM für ein Interview mit seinem Mandanten haben wollte, war da nur von marginalem Interesse — der Zweck heiligt schließlich die Mittel.

Die Frage, wie Innenminister Gottfried Milde in den Besitz dieses Abhörprotokolls gekommen war, stellte an diesem Abend im Wohnzimmer des Ministers — nach Erinnerung der Beteiligten — keiner. Dabei wäre das die Kardinalfrage gewesen — und für Joschka Fischer (MdL/Grüne) hätte die Debatte dieser brisanten Frage „nach allen Lebenserfahrungen“ eine Selbstverständlichkeit sein müssen. War es aber nicht, wie Justizminister Karl- Heinz Koch (CDU) am Dienstag in seinem Regierungsbericht zur Affäre Milde ausführte. Und die Herrenrunde wollte angeblich noch nicht einmal wissen, wie der forsche Minister und Rechtsanwalt gedachte, das illegal in seine Hände gelangte Abhörprotokoll politisch auszuschlachten. Wallmann: „Ich habe nichts gewußt von dem, was Gottfried Milde dann zwei Tage später im Landtag vorgetragen hat.“ Den unglaubwürdigen Versuch, eine „Fluchtlinie vor der Staatsanwaltschaft“ aufzubauen, nannte das Fischer.

Tatsächlich sitzt den Herren aus der Staatskanzlei seit den Einlassungen des Datenschutzbeauftragten Spiros Simitis vor dem Hauptausschuß des Landtages die Wiesbadener Staatsanwaltschaft im Nacken. Nachdem Simitis die öffentliche Verlesung des Abhörprotokolls durch Gottfried Milde als „Verletzung des Fernmeldegeheimnisses“ und damit als Verfassungsbruch bezeichnet hatte, und ausführte, daß dieses Protokoll niemals in die Hände des Ministers hätte gelangen dürfen, verbringen die Teilnehmer der Runde schlaflose Nächte. Denn da die Herren Wallmann, Gauland, Milde und Co. den „großen Schlag“ gegen Opposition und „linke Kampfpresse“ gemeinsam planten (und alle bekannt gewordenen Fakten und Einlassungen sprechen dafür), hat sich die Spitze der hessischen Union zumindest der „geistigen Mittäterschaft“ an einem klaren Verfassungsbruch schuldig gemacht — und Wallmann und seine Mitstreiter aus der Staatskanzlei müßten dem Beispiel von Milde folgen und von ihren Ämtern zurücktreten. „Das wird noch ein Striptease auf der Regierungsbank“, orakelte Fischer, „der Enthüllungsquotient steigt, und Regierungskrise ist angesagt.“

Die gedenkt Wallmann dadurch zu meistern, daß er seinen „Freund“ Milde fallen ließ wie eine heiße Kartoffel. Mildes Opfergang in die Bedeutungslosigkeit — Wallmann kürte am Dienstag den Hardliner Hartmut Nassauer zum neuen Innenminister — soll vor allem dem Ministerpräsidenten selbst und seinem Intimus Gauland den Abgang ersparen. Parteisoldat Milde spielte mit: In einer langen Nacht habe er alleine den Entschluß gefaßt, das Abhörprotokoll vor dem Landtag zu verlesen, sagte er.

Auf der Sondersitzung des Landtages geriet Alexander Gauland unter schwersten Oppositionsbeschuß, weil er — wie Wallmann selbst — von „nichts gewußt“ haben wollte. Dabei soll Gauland schon im Juli mit 'Stern‘-Chefredakteur Schmidt- Holtz telefoniert und dabei den Journalisten auf „Informationen aus einem Telefongespräch“ aufmerksam gemacht haben. Bis heute bestreitet Gauland die Angaben von Schmidt- Holtz. Und von Wallmann und Gauland werden gleichfalls Äußerungen von Mitarbeitern aus Staatskanzlei und Innenministerium dementiert, wonach Milde den Ministerpräsidenten noch vor der Landtagssitzung am 24. Oktober informiert haben soll. Im Hauptausschuß verhinderte Justizminister Koch mit dem Verweis auf ein „schwebendes Verfahren“ alle Fragen der Opposition an Gauland selbst und an den Pressesprecher im Innenministerium, Günther Jaletzke, der gleichfalls vorinformiert gewesen sein soll. Einen „Maulkorberlaß“ nannte das Karl Starzacher von der SPD.

„Einzeltäter“ Gottfried Milde jedenfalls schlich am Dienstag wie ein geprügelter Hund aus dem Plenarsaal. Daß die Regierungspartei FDP dann noch der Opposition die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses nahelegte, dürfte republikweit ein einmaliger Vorgang sein. Die Affäre Milde ist seit Dienstag eine „Affäre Staatskanzlei“.

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