Alles Wahlkampf ...

■ Rot-grüne Trennungspsychologie vor der Wahl KOMMENTAR

Mit gutem Grund ist auch in der Berliner Verfassung verankert, daß kurz vor Wahlen keine Parlamentssitzungen mehr stattfinden sollen. Wegen der gesetzlichen Regelung der Einheit und jetzt auch wegen des Koalitionsbruchs endet diese Legislaturperiode mit einer Sondersitzung nach der anderen, und die gestrige war immer noch nicht die letzte. Inszeniert wurde wieder ein endloses Wahlkampfstück vor den live übertragenden Fernsehkameras, merkwürdig verquickt mit aktuellen Stunden zu zwei denkbar verschiedenen Themen. Im Wahlkampf ist selbst diese Auslegung der Geschäftsordnung erlaubt.

Alles Wahlkampf? Fast. Zelebriert wurde gestern auch noch einmal die rot-grüne Trennung, und die besteht ebenfalls zu einem guten Teil aus Wahlkampf. Vor dem Scheidungsrichter sind bestimmte Spielregeln einzuhalten. Die AL klatscht nicht mehr bei SPD-Redebeiträgen und umgekehrt, die Ex-Senatorinnen sitzen auf der Zuschauerbank. Und wie bei zerrütteten »Beziehungen« üblich, hält man sich gebetsmühlenhaft seine Fehler vor und erwartet, daß die Öffentlichkeit der jeweils eigenen Position recht gibt — in diesem Fall beim Wahlverhalten. Die persönliche Enttäuschung der Protagonisten von Rot-Grün auf parlamentarischer Ebene stand deutlich im Raum. AL-Fraktionschefin Renate Künast ließ sich dazu hinreißen, SPD-Fraktionschef Staffelt in ihrem Redebeitrag zu duzen — und der verließ daraufhin den Saal. Wie bei jeder ordentlichen Ehe zeigt sich die Trauer über den Verlust und die Enttäuschung über nicht wahrgenommene Chancen.

Keine Frage, die Chancen für ein Wiederaufblühen der alten Haßliebe nach dem 2. Dezember stehen derzeit schlecht — aber auch nicht so schlecht, wie die SPD ihre Wähler glauben machen will. Mit der Entlassung zweier AL-Staatssekretäre hat die SPD noch einmal gezeigt, wer nach der Trennung am längeren Hebel sitzt. Trotz gegenteiliger Ankündigungen seitens der SPD Anfang der Woche gehorcht auch diese letzte Machtdemonstration der schwierigen Psychologie rot-grüner Krisenbeziehungen. Neben der politischen Absicht, die besonders Unbequemen loszuwerden, wird Rache am Partner für dessen unnötige Demontagedrohungen gegen den Regierenden geübt. Beide Seiten haben jetzt nach außen heftig die Federn geplustert und dabei bereits viel an Restkonsens aufs Spiel gesetzt. Doch Wahlkampf ist die Kunst, sich alles offenzuhalten — auch die Rückkehr zum verlassenen Partner. Nach der Wahl könnte man wieder aufeinander zugehen müssen. Kordula Doerfler