Das Grauen und der naive Blick

Über Ian McEwan — und über seinen Roman „Unschuldige“  ■ Von Bernhard Robben

Vor drei Jahren fuhr Ian McEwan durch Berlin-West. Er fuhr mit dem Fahrrad vom Brandenburger Tor nach Kreuzberg, dicht an der Mauer entlang. Am Potsdamer Platz sah er hinüber auf die „andere Seite“, auf Kaninchen und Führerbunker, und hier, auf dem Aussichtsturm, der längst einer Gesamtberliner Landschaft gewichen ist, wußte er endlich, in welcher Stadt sich jener Mann aufhielt, dessen Bild ihn seit langem verfolgte.

Mit diesem Bild hatte es angefangen: Ein Mann steht an einer Straße, in jeder Hand einen Koffer. Ian Mc Ewan ahnte, was in diesen Koffern war, und das beunruhigte ihn nicht mehr, doch durch welche Stadt ging dieser Mann, in welcher Zeit bewegte er sich? Nach dem Blick über den Potsdamer Platz wußte McEwan, daß es Berlin sein mußte, Berlin und die Zeit des Kalten Krieges, des amerikanischen Rock'n' Rolls und der Spione, die über den Checkpoint Charlie in die Kälte gingen und aus der Kälte kamen.

Doch während der Mann sich mit seinen Koffern abmüht, frage ich mich, warum Ian McEwans neuester Roman eigentlich Unschuldige heißt, und muß für eine Antwort etwas weiter ausholen. 1975 veröffentlichte McEwan First Love, Last Rites (Erste Liebe, letzte Riten), Kurzgeschichten, die in kühlem, gezügeltem Ton aus der Innenwelt ihrer zumeist jugendlichen Protagonisten berichten; Geschichten von denen, die weder Kinder noch Erwachsene sind, die immer Außenseiter, immer ver-rückt sind. Für sie ist die Welt alltäglich und zugleich auch fremd und bedrohlich. Nur in ihren Augen kann sich die Unschuld mit den Verbrechen paaren, deren Zeuge sie sind; sie sind ohne alle Hintergedanken amoralisch; ihre Blicke überbrücken scheinbar mühelos die Ver- rücktheiten zerstrittener Ehen und verübter Inzeste, von Vergewaltigung oder Mord. Erst am Ende der Geschichte meint man, auch von Trauer gelesen zu haben. Sie läßt sich nicht ganz begreifen, diese Trauer, sie ist einfach da, verhalten, ohne zu klagen und ohne zu urteilen, wie die Sehnsucht, die man fühlt, wenn man sich aus einem tristen Sonntag nachmittag fort und in ein anderes, wildes Leben zurückwünscht.

Findet man es noch entsetzlich, von zwei Frauen zu lesen, die sich an einem Mann rächen, sich einen schönen Abend machen und ihn genüßlich kastrieren? Ekelt man sich noch, wenn silbrige Popelfäden lang ausgezogen und sanft am Oberschenkel verrieben werden? „Perversitäten“ haben schon lange Einzug in die eigentlich niemals hehren Themen der Literatur gehalten, und das Schockierende an McEwans Geschichten sind denn auch nicht die lasziven Details. Es ist der Blickwinkel des Erzählens, diese unverfrorene Art, ein Tabu aufzuspüren und bis zu seinem Kern vorzudringen, mit einer Sprache, die so schamlos ist wie das Skalpell eines Chirurgen. Hier, in seiner Art, die Worte anzusetzen und die Sätze zu führen, ist sie zu finden, jene eigentümliche Schuldlosigkeit, jene Innocence, die dem letzten Roman den Titel gab.

„Jetzt, da Sie es erwähnen, denke ich auch, daß ich sehr ,unschuldig‘, also ,naiv‘ war, denn ich hatte zwar mit großer Begeisterung die moderne Literatur des 20. Jahrhunderts, besonders die Romane, gelesen, besaß jedoch noch nicht viel Erfahrung mit dem, was man früher einmal ,die Gesellschaft‘ nannte. Ich hatte kein sonderliches Gespür für das, was Leute schockierte, oder für das, was für sie anstößig und verletzend fanden. Ahnungslosigkeit oder Naivität mögen also tatsächlich eine große Rolle bei jenem Gefühl der Schuldlosigkeit gespielt haben.“

Zur Zeit läuft in den deutschen Kinos Paul Schraders Verfilmung von Ian McEwans The Comfort of StrangersDer Trost von Fremden. Mit diesem Roman veränderte sich die Stimme von McEwan. Statt ver- rückter Jünglinge erzählt seine Geschichten von nun an ein Mann wie Colin. Er ist nicht länger ein „loner“, ein Außenseiter, doch die Welt der anderen bleibt immer noch kaum mehr als jener Streifen Terra incognita am Horizont seines Bewußtseins. Ein „innocent“, ein Naivling, sicher, aber er spricht seine Worte schon lange nicht mehr nur in sich selbst hinein.

Colin und Mary sind nicht verheiratet, doch seit vielen Jahren ein Liebespaar. Sie fahren nach Italien, in eine Stadt, in der der Leser unschwer Venedig erkennt. Sie leben wie so viele Paare. Die kleinen Rituale des Immergleichen regeln den Tag und die Nacht, und was sich ereignet, ist nur das, was man erwartete und vorausgesehen hat. Bis die beiden eines Tages Robert und Caroline kennenlernen. Sie verstehen eigentlich nicht genau, wie ihnen geschieht, aber plötzlich ist wieder Leidenschaft, wo zuvor nur noch Langeweile war; sie sind von sich fasziniert, die Stadt wird zur verschlungenen, graben- und kanaldurchzogenen Kulisse für eine Erfahrung, die alles scheinbar Selbstverständliche hinter sich zurückläßt. Für Robert und Caroline nämlich gehören körperlicher Schmerz und lustvolle Qual zur Sprache ihrer Liebe, und vor Entsetzen fast gelähmt und gleichzeitig wie von einem Abgrund unwiderstehlich angezogen, erkennen Colin und Mary, daß auch in ihnen etwas nach diesem Spiel von Macht und Unterwerfung verlangt, daß der Sex eine archaische, überwältigende Kraft ist, die sich keinen ideologisch genehmen Konzepten fügt, eine Kraft, die den Menschen von seinem eigenen Selbstverständnis entmündigen kann, die sich nicht mit einfachen Antworten zufrieden gibt.

„In gewissem Sinne habe ich mich, glaube ich, schon immer für das Entsetzen, für das Grauen interessiert, das dicht unter der Oberfläche unserer alltäglichen, menschlichen Begegnungen liegt. Ein Killer oder ein Massenmörder ist in meinen Augen ein äußerst angepaßter, ein ganz normaler Mensch. Ich habe in meinen Geschichten schon oft mit dem Gedanken gespielt, daß gewöhnliche Menschen sehr grauenhafte Gedanken haben. Doch nur wenige Menschen setzen diese schrecklichen Gedanken auch in die Tat um. Denn die Zivilisation verlangt, daß wir uns der eigenen und der Sicherheit anderer Menschen zuliebe darauf einigen, bestimmte Verhaltensweisen auszugrenzen. Diese Übereinkunft schmälert allerdings keineswegs die Anspannung, mit der wir der Lust zur Gewalt, den immer noch in uns hausenden Dämonen widerstehen müssen. Und genau das macht das Leben so schrecklich und zugleich so interessant.“

Diese Überlegung McEwans bringt uns auf Umwegen zurück nach Berlin, zur Mauer und zu dem Mann mit den beiden Koffern. Der Mann heißt Leonhard Marnham, er steht 1956 an einer Straße in Kreuzberg und wird in wenigen Stunden dafür sorgen, daß den Russen eine Nachricht zukommt, die ihnen ein gut gehütetes, doch keineswegs verborgen gebliebenes Geheimnis anvertraut. Doch das ist beinahe schon das Ende von Unschuldige.

1955 wird Leonhard Marnham vom Post Office in London nach Berlin beordert. Für ein Sonderprojekt mit dem Codenamen „Operation Gold“ soll er an der Grenze zum russischen Sektor beim Bau eines Lagerhauses für die amerikanischen Streitkräfte helfen. Daß es ein Lagerhaus ist, glaubt zumindest die Berliner Bevölkerung und jeder Nichteingeweihte. Doch das Gebäude selbst ist nur eine Tarnkappe. Unter ihr tummeln sich Agenten des CIA und des britischen MI6. Und schließlich wäre nichts geheim im Geheimdienst, wenn jeder Spion dasselbe wüßte. Wer daher nur unter die Kategorie „Sicherheitsstufe eins“ fällt, der glaubt wie alle Welt, daß es sich bei diesem Bauwerk wirklich um ein Lagerhaus handelt. Die nächste Stufe weiß bereits, daß sich dahinter eine Radarstation verbirgt. Doch noch während sein Verbindungsmann Bill Glass ihm die Einzelheiten erklärt, fragt sich Leonhard, ob den Amerikanern nicht ein Fehler unterlaufen ist, als sie gerade ihn aus London angefordert haben. Schließlich ist er Spezialist für das britische Telefonnetz und hat von Radar keine Ahnung. Von Geheimdiensten allerdings auch nicht. Denn — und das ist Sicherheitsstufe drei — unter der Radarstation verbirgt sich ein Spionagetunnel. Mit gigantischem Aufwand haben die Amerikaner diesen Tunnel bis in den russischen Sektor vorgetrieben, um die dort, in der Nähe der Schönefelder Chaussee, verlaufenden Telefonleitungen anzuzapfen.

„Obwohl Berlin in der Zeit meines Romans noch eine zerstörte Stadt ist, liefert es den Hintergrund für eine Art Kalter-Krieg-Optimismus, zumindest gilt dies für die Amerikaner. Vielleicht spielte dieser Optimismus eine gewisse Rolle beim Aufbau einer neuen europäischen Ordnung, bei der Förderung westlicher Demokratien oder bei der Initiative für einen Zusammenschluß zu einem gemeinsamen europäischen Markt. Wenigstens gilt dies für Bill Glass, dem CIA-Mann im Berlin- Roman, der so schwungvoll und optimistisch ist, wie ich mir die Erbauer eines Weltreiches vorstelle. Es liegt eine gewisse Unschuld in seiner Überzeugung, daß sein Weg der einzig richtige ist.“

Bill Glass ist nicht der einzige „innocent“, der einzige schuldig Unschuldige in diesem Roman. Leonhard ist „innocent“, und zwar zuerst einmal im einfachsten Sinne des Wortes: Er hat noch nie mit einer Frau geschlafen. Das ändert sich — natürlich — im Laufe des Romans. Er lernt die Berlinerin Maria kennen, eine Frau, die einige Jahre älter ist als Leonhard und bereits einmal verheiratet war. Otto, ihr früherer Ehemann, ist ein Säufer, und manchmal taucht er noch auf und macht Maria das Leben schwer, verlangt Geld von ihr und verprügelt sie hin und wieder auch im seligen Angedenken an verflossene Zeiten. Doch einmal, an dem Abend, als Maria und Leonhard sich verloben, treffen Leonhard und Otto aufeinander, es kommt zu einem Streit, man wird handgreiflich, Otto schlägt, Otto tritt zu und Leonhard, blind vor Schmerz, greift nach etwas Schwerem, Schwarzem und läßt es mit verzweifelter Kraft in das blutverschmierte Gesicht vor seinen Augen fallen — und Otto stirbt.

Maria befürchtet Schwierigkeiten, wenn ihr einstiger Ehemann tot in ihrer Wohnung gefunden wird, Schwierigkeiten auch für Leonhard, den Soldaten einer Besatzungsmacht. Und so beschließen die beiden, die Leiche verschwinden zu lassen. Leonhard kauft Plastikplanen, eine scharfe Säge und ein Beil, Maria holt ein Messer aus der Küche. Otto wird auf den Küchentisch gelegt. Und was Ian McEwan nun beschreibt, ist bestialisch gut — und Hans-Christian Oesers Übersetzung erspart dem Leser nicht die geringste Nuance. Otto wird zersägt. Man hört das Geräusch der Säge, die auf den Knochen trifft, spürt die elastische Haut, bei der die Säge nicht mehr richtig faßt, und sieht, wie Leonhard für den letzten Schnitt zum Messer greift. Und bei alledem kann der Leser nicht vergessen, daß es sich um die Nacht der Verlobung handelt, daß die beiden auf unerklärliche Weise mit dieser kannibalischen Handlung doch noch den Liebesakt vollziehen. Er liest zwischen den Fingern der vorgehaltenen Hand hindurch und graust sich und ekelt sich und läßt sich von McEwan in atemlosen Bann schlagen. Leonhard verpackt die Leichenteile in zwei Koffer und verläßt Marias Wohnung. Dann steht er an einer Straße in Berlin- Kreuzberg, in jeder Hand einen Koffer.

Ian McEwan liest heute abend in der Berliner Buchhandlung Marga Schöller in der Knesebeckstraße aus seinem Roman „Unschuldige“.

Ian McEwan: Unschuldige. Eine Berliner Liebesgeschichte . Übersetzt von Hans-Christian Oeser, Diogenes Verlag 1990, 36 DM