Japanische Prinzipienlosigkeit

Gespräch mit dem japanischen Literaturhistoriker und Kulturkritiker Shuichi Kato (71) über Japan und den Westen  ■ Von Georg Blume

In der vergangenen Nacht nahm Tenno Akihoti im Kaiserpalast in Tokio das gemeinsame Nachtmahl mit seiner Vorfahrin, der Sonnengöttin Amaterasu, ein. Wie das Ritual vorsieht, hat er damit auch den göttlichen Geist seiner Ahnen übernommen. Mithin verkörpert er die Einzigartigkeit Japans. Zum Tag der Götterdämmerung sprach die taz mit Shuichi Kato, einem der führenden Intellektuellen des Landes über das Verhältnis Japans zu sich selbst und zum Rest der Welt.

taz: Herr Professor, Sie gelten in Japan als einer der besten Kenner des westlichen Kulturkreises. Sie haben fast die Hälfte Ihres Lebens in Deutschland, Frankreich, Italien, den USA, Kanada, England, der Schweiz und Mexiko gelebt und unterrichtet. Glauben Sie heute, daß der Westen mehr über Japan weiß als zuvor?

Shuichi Kato: Zunächst war das der Glaube an die japanische Exotik. Die Geishas, die Kirschblüten... der Westen träumte lange Zeit davon. Nach dem Zeiten Weltkrieg kamen dann etwas Zen, zur Beruhigung der Seele, und die Teezeremonie dazu. Auch die traditionellen Künste weckten noch Interesse. Diese Exotik gehört noch heute zum Japan-Bild, aber sie war nur die erste Phase. In der zweiten Phase entdeckte der Westen das japanische Erfolgsmodell. Japan war aus amerikanischer Sicht erfolgreich, weil es ökonomische Effizienz bewies und kein linkes Gesellschaftsprojekt darstellte. Japan war ein amerikanisches Modernisierungsmodell — zunächst freilich für die Dritte Welt bestimmt. Später lernte man dazu, daß bestimmte Elemente im Managment-System oder bei der Erziehung vielleicht auch für den Westen interessant sein könnten. Doch erst in der dritten — der jüngsten — Phase westlicher Japan-Rezeption tritt die Konkurrenz hervor. Es ist die Zeit des „Japan-Bashing“. Japan wird jetzt als einzigartig, vollkommen unverständlich, kulturell unvergleichbar beschrieben — oder mit einem Wort: es ist ein komisches Land. Darin findet sich nicht mehr die alte Exotik mit ihrer im Grunde positiven Einstellung. Nun besinnt sich der Westen auf die japanische Bedrohung.

Kommt der Westen in seinem Japan-Verständnis so weiter?

Die Exotik beruht immer auf einem Mißverständnis. Es wird nur ein Teil der Gesellschaft gesehen, der Kontext wird fallengelassen. Das gilt leider auch für die neuen Japankritiker im Westen. Ihre Sichtweise ist nicht umfassend. Sie sind geblendet von Japans wirtschaftlicher Macht. Darüber hinaus bleibt das Gefühl, Japan sei eine andere Welt. Man geht weiterhin von der grundsätzlichen Ungleichheit zwischen dem Westen und dem Rest der Welt einschließlich Japans aus. Deshalb werden japanische Importautos in den USA und Europa als Bedrohung empfunden, andere aber nicht.

Tatsächlich zieht Japan auf wirtschaftlicher Ebene gerade erst mit den USA gleich. Die Amerikaner übertreiben mit ihren Reden vom eigenen Untergang. Weil sie bisher die Stärksten waren, sehen sie sich schon in der Krise. In Wirklichkeit sind sie es nur nicht gewöhnt, ein gleichwertiges Gegenüber zu haben.

Warum fällt dem Westen eine nüchtern-rationale Auseinandersetzung mit Japan so schwer?

Das hat einerseits immer noch mit dem Krieg zu tun. Die Siegermächte waren nicht in gleichem Maße gezwungen, ihre Produktionsmittel zu erneuern. Japan und Deutschland haben das ausgenutzt, aber man gibt es ungern zu. Andererseits ist es für den Westen leichter, den japanischen Erfolg mit einer anderen Arbeitsethik, mit einem anderen Gruppenverhalten oder sonstigen Kulturtraditionen zu erklären. Anstatt zu sagen: „Die Maschinen sind in Japan einfach moderner. Das ist alles.“ Damit wäre natürlich die jahrhundertelange technologische Überlegenheit des Westens in Frage gestellt. Heute läßt sich freilich leicht feststellen, daß man in Japan pro Einheit verbrauchter Energie mehr produziert als in den USA oder Europa. Die maschinelle Ausrüstung in Japan muß also effizienter sein.

Im Westen stecken auch die menschlichen Leitfiguren des Kapitalismus in der Krise. Der väterliche Unternehmertyp oder der moderne Yuppie-Manager können nicht mehr für viele als Beispiel herhalten. Gibt es im gruppenorientierten Japan weniger Identifikationsprobleme?

Der Westen ist zu individualistisch, und Japan hat zu wenig Individualismus. In der Geschichte hat sich der westliche Individualismus als Motor der Industrialisierung erwiesen, weil er dem Konkurrenzprinzip entsprach. Inzwischen zeigen sich seine Kehrseiten. Die Vereinsamung des Einzelnen ist in den westlichen Gesellschaften sehr weit fortgeschritten. Aber auch innerhalb der Produktion, in der Firma, schlägt der Individualismus zurück. Wenn ein Abteilungsleiter seine Angestellten nicht fördert, weil er Angst hat, einer von ihnen könnte ihn ablösen oder überholen. Wenn ein Angestellter seine Informationen nicht weitergibt, weil er Angst hat, andere könnten sie gegen ihn ausnutzen. Dabei wird für alle Beteiligten die Konkurrenz zum Selbstzweck und entspricht nicht mehr den Arbeitserfordernissen.

Kein Chef in Japan hat dagegen Angst vor seinen Untergebenen. Informationen zirkulieren viel schneller und effektiver, weil alle die Aktivitäten der Gruppe stärken wollen.

In großen internationalen Betrieben hat Information den Wert eines industriellen Rohstoffs bekommen. Für den einzelnen Unternehmer wird es immer schwerer, Entscheidungen allein zu treffen. Läuft diese Entwicklung zugunsten des japanischen Modells?

Es läßt sich nicht so einfach sagen, welches System sich in der industriellen Produktion als effektiver erweist. In Japan geht das Genie leicht in der Gruppe unter. Die Gruppe verbessert zwar die Arbeitsbedingungen, doch sie ist selten fähig, wirklich neue Dinge zu entwickeln. Darin liegt das Positive des Individualismus. Am Ausgangspunkt einer revolutionären Idee steht immer das Individuum.

Selbst mit einer guten Handvoll revolutionärer Ideen läßt sich kein Handelskrieg gegen Japan gewinnen.

Unsere gemeinsame Zukunft wird sich an der Frage entscheiden, welches System — das westliche oder das japanische — in höherem Maße fähig ist, die charakteristischen Elemente des jeweils anderen Systems zu absorbieren. Die wirkliche Konkurrenz besteht nicht zwischen den Systemen. In etwa parallel verlief die Auseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Der Sozialismus unterlag, weil er es nicht vermochte, kapitalistische Elemente in das eigene System zu integrieren. Dagegen hat man in allen kapitalistischen Erfolgsmodellen zahlreiche Ratschläge der Sozialisten befolgt, auch wenn davon nicht ausdrücklich die Rede war. So basiert in Deutschland die Sozialpolitik auf sozialistischen Ideen. Japan dagegen hat die zentrale Wirtschaftslenkung des Sozialismus einigermaßen praktiziert. Nicht umsonst gibt es in Amerika derzeit die größten Schwierigkeiten.

Aber werden sich die Japaner in Zukunft am westlichen Individualismus orientieren oder wird der Westen japanisches Gruppenverhalten erlernen?

Hier spielen die kulturellen Traditionen mit. Ein Aspekt europäischer Kultur war immer die Prinzipientreue. Das hat seine guten Seiten, weil man dem Opportunismus vorbeugt. Das hat aber auch seine Nachteile, weil man unflexibel ist. Wenn es um Prinzipien geht, ist die Veränderung für den Westen sehr schwer. Japan aber ist alles andere als ein Land der Prinzipien. Bei uns gibt es also die Gefahr des Opportunismus, aber auch den Vorteil der Flexibilität im pragmatischen Sinne. Möglicherweise werden es die Japaner deshalb leichter haben , bestimmte individualistische Verhaltensmuster zu übernehmen. Sie würden daraus keine Prinzienfrage machen. Sie würden das auf ganz pragmatische Art und Weise tun, weil es in einem gewissen Rahmen den industriellen Notwendigkeiten entspricht.

Erweist sich das japanische System auch im Inneren des Landes als ebenso flexibel und anpassungssicher? Kennt Japan die Probleme der Zweidrittelgesellschaft?

Thatcher, Reagan und Nakasone haben in den achtziger Jahren die gleiche Politik verfolgt. Auf Kosten des armen Teils der Bevölkerung, der in den USA oder England freilich noch größer ist als in Japan, hat man den Reichen geholfen, reicher zu werden. Bis in die siebziger Jahre haben in Japan alle vom Wachstum profitiert. Heute gibt es zudem eine völlig verarmte Schicht der Bevölkerung, etwa zehn Prozent, und eine neureiche Schicht der Landbesitzer, auch etwa zehn Prozent. Entscheidend aber ist: Die Mehrheit der Bevölkerung, das heißt die Arbeiter- und Angestelltenschicht der kleinen und mittleren Betriebe, hat ihren Lebensstandard nicht mehr verbessern können. Im Gegenteil, für diese einfachen Arbeiter ist das Leben seit den achtziger Jahren schwieriger geworden. Sie haben enorme Schwierigkeiten, eine passende Wohnung für die Familie zu finden. Deshalb müssen sie oft in die fernen Außenbezirke der großen Städte ziehen und einen weiten Arbeitsweg in Kauf nehmen. Drei Stunden am Tag in einem Zug wie in der Sardinenbüchse, wo man weder lesen noch sonst etwas machen kann — das ist sehr unangenehm. Und noch schlimmer: Der Betroffene hat keine Hoffnung auf Veränderung. Es gibt keinen Ausweg. Man ist für sein Leben lang verurteilt.

Hat das Volk schon resigniert, wenn es sich gegen ein solches Schicksal nicht zur Wehr setzt?

Was wollen sie machen, wenn nur die Reichen die Politik des Landes kontrollieren? So einfach ist das nicht. Zudem verfügt die japanische Gesellschaft über zahlreiche Sicherheitsventile. Das Auto, das Fernsehen, die vielen kleinen Bars und Restaurants. Auch in Japan herrscht längst die Konsumgesellschaft. Die Leute interessieren sich fürs Geld, damit sie ein wenig Ablenkung finden. Damit unterstützen sie das System. Das Ergebnis ist der Status quo. Meine größte Befürchtung ist, daß sich Japan dabei gegenüber der Welt verschließt. Wir stehen der Welt zwar wirtschaftlich, aber nicht psychologisch offen gegenüber. Wir interessieren uns immer weniger für die Welt.

Alle äußeren Anzeichen sprechen dagegen. Japanische Unternehmen sind weltweit aktiver denn je. Japan zahlt die meiste Entwicklungshilfe. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Betrachten Sie nur Japans Reaktion auf die Golfkrise! Das Parlament diskutierte wochenlang, die Medien berichteten umfangreich. Doch es ging immer nur um die Frage, ob man japanische Soldaten in den Golf schicken sollte oder nicht. Niemand sprach von der eigentlichen Krise im Nahen Osten, von ihren Konsequenzen oder Lösungsmöglichkeiten. Sogar Helmut Kohl hat dem amerikanischen Präsidenten kürzlich eine friedliche Lösung der Golfkrise empfohlen. Ich habe von der japanischen Regierung weder gehört, daß sie den Krieg empfiehlt, noch daß sie eine friedliche Lösung befürwortet. Unserem Land fehlt ganz offenbar das Bewußtsein, das es ermöglicht, eine internationale Krise überhaupt zu diskutieren.

Immerhin reisen heute zehn Millionen Japaner jährlich ins Ausland, so viele wie nie zuvor. Lernen sie dabei gar nicht von der Welt?

Das ist wohl so ähnlich wie mit den Amerikanern nach dem Krieg. Damals sind viele Amerikaner nach Europa gereist. Die haben auch nicht viel begriffen. Der japanische Tourismus ist heute noch dazu so gut organisiert, daß man nicht ein einziges Wort einer Fremdsprache lernen muß, um ins Ausland zu verreisen. Die japanischen Touristen bleiben ohne jeden Kontakt mit der Fremde.

Bereits Ihr Großvater führte in Tokio ein offenbar ausgezeichnetes italienisches Restaurant. Lassen sich in Japan nicht doch manche anderen Sitten durchsetzen?

Das Restaurant, von dem Sie reden, war eine große Ausnahme. Vor drei Jahren reiste ich zum ersten Mal mit japanischen Journalisten durch Europa. In Rom fragten sie nach dem nächsten japanischen Restaurant. In Reims standen wir vor der Kathedrale, aber niemand wollte sie besichtigen. Und in London warfen die japanischen Journalisten nicht einen einzigen Blick auf die englischen Zeitungen. Sie interessierten sich für gar nichts. Die Mehrheit der Japaner interessiert sich heute nur für ihre eigenen Besonderheiten. Das gilt für den einzelnen, aber auch für die Gesamtgesellschaft. Vor dem Krieg strebte Japan ausschließlich nach militärischer Macht. Nach dem Krieg strebte Japan ausschließlich nach wirtschaftlicher Macht. Japan weist viele Züge einer eindimensionalen Gesellschaft auf. Auch hierin begründet sich die Gefahr der Isolierung des Landes.

Literaturhinweis: „Geschichte der japanischen Literatur“ von Shuichi Kato, Scherz-Verlag, München 1990