Catch-as-catch-can

■ Erinnerungen eines Catch-Weltmeisters WIR LASSEN LESEN

Wie von einem magischen Kult in den Bann gezogen, starren die Menschen, die sich die Sitze eng an eng teilen, auf das von vier Scheinwerfern angestrahlte Seilgeviert. Knisternde Spannung liegt in der Luft, dichter Zigarettenqualm mischt sich mit dem gedämpften Raunen der Menge. Selbst der Unbedarfte spürt, daß etwas Außergewöhnliches bevorsteht. Ähnlich dem Hochseilakt in der Zirkusmanege, der ein jedes Mal vom Flair des Ungewissen, des Atemberaubenden, umgeben ist. Keiner kann sich diesem Fluidum entziehen.

Der Schauplatz des Geschehens — beliebig. Heiligengeistfeld in Hamburg, Royal Albert Hall in London, der Budokan von Tokio, Schützenplatz zu Hannover, eine Freiluft-Arena in Casablanca, das Urfahrer Marktgelände an der Donau in Linz oder Bremens Stadthalle...

Urplötzlich, zunächst noch ohne ersichtlichen Grund, vereint sich die Menge, aus den unterschiedlichsten Schichten zusammengesetzt, zum tausendfachen, ohrenbetäubenden Proteststurm. Pfiffe, Schmährufe, Verbalinjurien nehmen von der Akustik rücksichtslos Besitz. Aus dem Dunkel der Arena löst sich ein strohblonder Hüne, Gardemaß, 1,97 Meter, 125 Kilogramm, schreitet — das Verb müßte eigens für ihn erfunden werden — schreitet zum Ring. Bekleidet mit einem bodenlangen Dracula-Cape, schwarzem Samt, auf dem Rücken goldene Epauletten und goldener Adler, innen purpurrot. Gerader Blick, dem schimpfenden Mob links und rechts keine Beachtung schenkend. Die wandelnde Arroganz. Noblesse oblige.

Voller Würde, bedächtigen Schrittes, steigt er die vier Stufen zum Ring empor. Ein graziöser Schwung über das Seil und der Gigant beherrscht das Szenario. Die Welle der Empörung gipfelt in ihrem Höhepunkt. Der Champion — er ist es, wie unzweifelhaft festzustellen ist — tänzelt federnd voller Lässigkeit durch den Ring, wirft einen stechenden Blick ins Auditorium, ignoriert mehr oder weniger sein vermeintliches Opfer, provoziert stattdessen die Unbill des Publikums, was ihn keineswegs bekümmert; im Gegenteil, in ihm beste Laune hervorzurufen scheint.

Der Ringansager stellt den Leviathan vor: „L'Aristocrat du Catch“, den „König der Catcher“, wie ihn die Veranstalter landauf, landab titulieren — und es zischt wie ein gefährliches Reptil. Lasartesse. René Lasartesse. Catch-as- catch-can.

Mit diesem imposanten Prolog beginnt René Lasartesse, Catch-Weltmeister von 1970 bis 1978, zwölfmaliger Europameister und seit nunmehr 37 Jahren Top-Akteur des internationalen Catch-Geschäftes, seine von Andreas Matlé aufgezeichneten Lebenserinnerungen. „Ein guter Bösewicht“, so der Titel dieses 440 Seiten umfassenden und im Eigenverlag herausgegebenen Buches, ist zugleich ein Insider-Report über ein knallhartes Business, in dem Sport und Show, Freundschaft und Verrat, Meisterehren und Tragödien eng miteinander verschlungen sind.

Lasartesse ist als meistgehaßter Berufsringer Europas verschrien. In seinen Memoiren berichtet er denn auch, mit welch subtilen Mitteln er auf der feinnervigen Tastatur der Voyeure zu spielen weiß, wie er Haß bei sich und dem Publikum erzeugt. Der aus der Schweiz stammende Lasartesse, der mit bürgerlichem Namen Edouard Probst heißt, nimmt den Leser hautnah mit auf die Reise durch die Catcher-Ringe Europas, der USA, Westafrikas und Indiens, beschreibt Siege und Niederlagen, und die Gefühle, die dabei in ihm vorgingen.

Der Catch-Champion erzählt von Berufskollegen und ihren Schicksalen, von Groupies und von den Praktiken der Sklavenhalter dieses modernen Gladiatorentums. Er erzählt von Männern im Rollstuhl und solchen, die bei der Aufgabe, dem Publikum jeden Wunsch zu erfüllen, sogar ins Grab stolperten. Bei alldem läßt Lasartesse aber auch die Romantik und die schelmenhafte Atmosphäre eines Vagabundendaseins, das ihn in Ausübung seines Berufes um die ganze Welt brachte, lebendig werden. „Du siehst Länder, Erdteile, Kontinente, die andere nur vom Globus kennen. Englisch, französisch, spanisch sind dir so geläufig wie deine Landessprache. Schwarze, Gelbe und Rote sind dir näher als deine Nachbarn.“

Nicht zuletzt lüftet der Catcher und Kosmopolit das „ewige Geheimnis“: Sport oder Show? Wobei er gewaltig an den Vorurteilen all der Fernseh- und Pantoffelsportler rüttelt, die die Catcher nur allzugerne als „Asoziale der Sportgesellschaft“ abstempeln.

Andreas Matlé ist es gelungen, die Lebensgeschichte des René Lasartesse in all ihren Phasen rasant in Szene zu setzen. „Ein guter Bösewicht“ ist ein ebenso informatives wie spannend geschriebenes Buch, das allerdings einen etwas flotteren Titel verdient hätte. Dem Inhalt tut das allerdings keinen Abbruch. Catch-as-catch-can. Forever! Georg Diederichs

René Lasartesse (mit Andreas Matlé): „Ein guter Bösewicht; Erinnerungen eines Catch-Weltmeisters“. Eigenverlag, Frankfurt a.M./ Basel 1990; 440 Seiten; 44.-DM. Bestellung: Andreas Matlé, Vilbeler Landstr. 91, 6000 Frankfurt 60.