Blues-Orchester auf der Titanic

■ Antje Vollmer zur KSZE-Konferenz DOKUMENTATION

Die letzten 500 Jahre europäischer Zivilisation kannten neben unzähligen Kriegen auch vier große europäische Friedenskonferenzen: den Westfälischen Frieden 1648 — den Wiener Kongreß 1814/15 — den Versailler Frieden 1918 — und nun den KSZE-Gipfel. Auch aus dem letzten, diesem Kalten Krieg, kriechen die Völker Europas heraus wie aus einem zu langen und zu kalten Winter. Sie begreifen die neue Ordnung noch nicht und wissen noch nicht: Wird dieser Friede von Dauer sein? Einiges ist anders diesmal. Erstens: Auf dem Schlachtfeld des Kalten Krieges bleiben nicht Millionen Tote zurück wie früher — wenn auch immer noch zu viele Verluste und Schädigungen von Menschen zu beklagen sind, und zweitens sind es diesmal nicht die Sieger, die die Landkarte Europas im Rausch ihres Erfolges neu entwerfen.

Formal waren alle gleichberechtigt, die am Tisch in Paris Platz nahmen. Es gab also keine Sieger mit Waffen, das ist wahr. Trotzdem hat es so etwas wie Gewinner gegeben, und wir Deutschen gehören dazu.

Die Frage aber, die in Paris als Schrift an der Wand stand, ist nicht beantwortet worden: Wird es auch keine Verlierer geben? Ob es Verlierer geben wird, hängt ganz und gar davon ab, ob es gelingt, eine gerechte Zukunftsordnung für das neue Europäische Haus zu entwerfen. Es erscheint keineswegs zufällig, daß sich mitten im risikoreichen Geburtsvorgang eines neuen Verhältnisses der europäischen Völker untereinander die alten Gespenster wieder melden.

Mit den Waffen und Techniken der Alten und der Neuen Welt droht Kriegsgefahr am Golf. Und wieder geht es dabei neben anderen Gründen auch um den Anspruch auf Energieressourcen wie in vielen europäischen Konflikten der letzten Jahrhunderte.

Da ist die nicht enden wollende Krise in der Sowjetunion mit ihren wild aufbrechenden Nationalitätenkonflikten. Da sind Krawalle, Verschärfung der sozialen Konflikte und drohende Hungerrevolten in den großen Städten. Da gibt es wieder Fremdenhaß und Pogrome. Dies alles erzeugt ungeheure Anforderungen an die Politik. Sie muß in der Lage sein, durch Selbstfesselung den drohenden Kriegsausbruch zu verhindern. Sie muß in der Lage sein, Hoffnungen gerade aus Osteuropa zu erfüllen, von denen wir nicht einmal wissen, ob es überhaupt möglich ist, sie nicht allzusehr zu enttäuschen. Sie muß praktisch die Menschenrechte schützen und Toleranz stärken.

Gegenüber der ungeheuren Risikobereitschaft der Selbstauflösung des Warschauer Pakts erscheint die Nato als Agentur des Mißtrauens.

Nato und KSZE können auf Dauer keine Partner sein, so wie gewaltfreie und Gewaltpolitik nie Brüder sein können. Ob wir mutig genug sind, die Waffen aus der Hand zu legen, oder so feige, daß wir Vertrauen pur nicht ertragen können, daran entscheidet sich die Zukunft Europas.

Solange uns der ältlich-stählerne Charme der Nato als Stärke und das mutige idealistische Gebilde KSZE als zu schwach erscheint, solange bleiben wir Kinder des 20. Jahrhunderts. Rein realpolitisch gibt es aus diesen Überlegungen nur folgende Konsequenz:

— entweder die Nato löst sich in absehbarer Zeit auf zugunsten eines über die KSZE entstehenden gesamteuropäischen neuen Sicherheitssystems,

— oder alle osteuropäischen Staaten inklusive der Sowjetunion werden Mitglied der Nato, was eine völlige Veränderung der Nato bedeuten und somit faktisch auf dasselbe hinauslaufen würde.

Mit der deutschen Vereinigung ist ein neues Machtzentrum entstanden, genauer: ein altes hat eine neue Qualität bekommen. Das neue Deutschland ist nicht die BRD plus ein bißchen. Vielmehr ist ein neuer ideologischer Leitstern am Horizont erschienen, der die sowjetische Jahrhundertvision vom proletarischen Weltreich, aber auch den „american way of life“ ablöst.

Von gefährlicher Faszination erstrahlt nun der „german way of life“, eine Lebensart, in der sich Mercedes und Die Grünen, Seidenhemden und soziale Sicherheit friedlich zu verbinden scheinen. Die amerikanische Art zu leben hat drei Kennzeichen, die sie heute definitiv zum Auslaufmodell machen:

1. Die Spaltung zwischen Arm und Reich ist tief und brutal.

2. Der Energieverbrauch ist so grotesk hoch, daß diese Art der Verschwendung im beginnenden Zeitalter der Ökologie allzu deutlich die Zeichen ihres eigenen Endes trägt.

3. Die Neigung der amerikanischen Politik zum Militärischen und zur Weltpolizei scheint unausrottbar.

Dagegen wirkt Deutschland heute vergleichsweise zurückhaltend, intelligent, effizient und stark. Dieses Bild macht Deutschland im Wortsinn zu einem Fluchtpunkt in Europa.

Und doch ist der „german way of life“ nicht die Spitze der globalen Hoffnung, sondern die am besten funktionierende Illusion; und doch ist sie mehr das schillernde Ende einer Epoche als der Beginn einer neuen. Wir sind eben nur derzeit das lustigste und eleganteste Blues-Orchester auf der Titanic der Weltgesellschaft. Wie soll daraus ein gemeinsamer Aufbruch zur Überwindung der ökonomischen und sozialen Spaltung Europas entstehen? Das Gegenteil davon geschieht:

Im Osten bahnt sich ein gnadenloser Kampf um einen der wenigen Plätze im Rettungsboot Europa an. Bei uns werden im Geist und in den Gesetzesschmieden neue Mauern konstruiert. Der erste Impuls von West nach Ost war Freiheit, der zweite ist Brutalität und Egoismus. Wir müssen bei uns anfangen. Wir brauchen einen historischen Kompromiß mit Osteuropa. In bezug auf die Menschenrechte und die politischen Freiheitsrechte könnten die westlichen Demokratien ein Vorbild für Osteuropa sein — in bezug auf die Ökonomie dürfen wir kein Vorbild sein. Darum müssen gerade die westlichen Staaten ökonomisch abrüsten, sie müssen ihren Krieg gegen die Natur, die Zerstörung des Bodens durch die Agrarindustrie, die Überflutung der Erde mit Gift und Abfall beenden. Sicherheit wird auch die KSZE in Zukunft nur noch dann schaffen können, wenn sie die Ökologie in den Mittelpunkt rückt. Die KSZE braucht einen 4. Korb, einen grünen Korb, eigens für die Ökologie.

Die Bürokratien sind der neue Feudaladel Europas. Die UdSSR ist unter dieser Last schon zusammengebrochen, auch ökonomisch.

Ich befürchte, daß auch dies ein gesamteuropäisches Problem ist. Die überflüssige Nomenklatura wegzukriegen, die überflüssige Nato aufzulösen und die EG-Bürokratie auf ein rationelles Maß zurückzustutzen: das sind gigantische Zukunftsaufgaben für Europa.

Einschneidende Abrüstung in Europa wäre dazu der wichtigste Schritt und eine doppelte Befreiung: von den Kosten und von Sicherheitsapparaten. Warum geht das mächtige Deutschland da nicht voran? CDU und FDP können es nicht, weil sie mit der Militärbürokratie und -industrie seit Jahrzehnten zu sehr verbrüdert sind.

Am Anfang der KSZE waren nur die Träumer klug. Die Zweifler waren die historisch Dummen. Die CDU gehörte übrigens dazu. Grundlage des KSZE-Prozesses war ursprünglich die Fiktion des guten Willens aller Vertragspartner. Eine Fiktion, die zunächst idealistisch war, mittlerweile aber geschichtsmächtig geworden ist. In Zukunft geht die KSZE von der Fiktion der Gleichheit aller Beteiligten aus. Hoffentlich ist diese Fiktion ebenso erfolgreich, hoffentlich führt sie zu einer Gleichheit unter den Menschen Europas. Dazu ist aber eine Stärkung dieses Gremiums nötig, die mit den jüngsten Beschlüssen mehr angedeutet als eingeleitet wurde. Die Idee einer europäischen Konföderation ist hier am meisten zu fördern.

Was auch immer wir aus Europa machen — es darf nur die Hälfte unserer Kraft beanspruchen. Die eigentliche Aufgabe wird immer mehr das Verhältnis zum Süden sein.

Peter Sloterdijk hat gesagt: Die Pointe des 20. Jahrhunderts ist, daß die Dinge so weit gekommen sind, daß der imperiale Ring um den Erdkreis geschlossen ist.

Durch unsere Wirtschaftsweise wird aus jedem Geiselnehmer auch eine Geisel, aus jedem Erpresser auch ein Erpreßter. Das wird also das Schicksal der Nationen im 3. Jahrtausend bestimmen. „Wir werden uns einleben müssen in einer Welt, in der die fremden Lebenden wichtiger werden als die eigenen Toten.“ Und genaugenommen ist gerade das eine große Hoffnung.

Der Text ist eine gekürzte Fassung der Rede der grünen Fraktionssprecherin am 22. November im Bundestag zu den Ergebnissen der Pariser KSZE-Konferenz. Es ist zugleich ihre letzte Rede vor dem Bundestag, aus dem sie mit dem 2. Dezember ausscheidet.