Das Trauma als Motivation

■ Im Culture-Club: Henning Harmssen, Journalist, NS-Filmpolitik-Fachmann, Bewahrer seiner Erinnerungen / Auch ein deutsches Leben

Wie richtet man sich in der Welt ein: Indem man sich immer neu mit der allgemeinen arrangiert oder indem man sich ein für allemal eine besondere einrichtet? Henning Harmssen hat sich nicht entscheiden können, sondern ist zwangsfestgelegt worden: vom Kindsein im Nationalsozialismus. Von der Jugend in Konflikt zum Regime. Ein Trauma, sagt er, das er zu seinem Thema gemacht hat: nicht nur als Journalist und NS-Film-und Kulturpolitik- Experte. Das Trauma beherrscht ihn auch in fast allen seinen privaten Gesprächen. Womöglich eine Form der Erlösung, die dem Schrecken durch seine dauernde Beschwörung das Entsetzen nimmt. Mithilfe seiner öffentlichen Arbeit katapultiert sich Henning Harmssen immer wieder in seine Vergangenheit, bewußt und gerne. Eine ausgesprochen undeutsche Verarbeitungs-Leistung, mit — nicht trotz — seinen Erinnerungen zu überleben, im Vergleich zur typischeren Verdrängungs-Leistung.

Er hat als Treffpunkt das Kachelstübchen vorgeschlagen, irgendwo im Parkplatz-Dunkeln hinter dem Hotel zur Post — obwohl er nicht versteht, was ich ausgerechnet von ihm wollen kann. Der Vordergrund ist nicht sein Stammplatz. Jedenfalls seit Kriegsende. Henning Harmssen, Jahrgang 1925, merkt man die großbürgerliche Elternstube an: jene Kultiviertheit, die ihre Kinder formvollendet kurzhält und höflich auf der Hut hinterläßt.

Ich gebe zu, daß mich nicht nur seine immensen Kenntnisse neugierig gemacht haben, sondern die Anekdoten, mit denen er seine NS-Film-Seminare und seine Radiosendungen zu Nähkästchen lebendiger Geschichte macht. Ach, er kennt sie aus der Nähe, die Hans Albersse seinerzeit. Wie das kam? Nicht direkt aus der Wiege oder vom Vater, bremischer Außenhandels-und Wirtschaftssenator bis '53 und stadtbekannter Nicht-Nazi. Von Hause aus — und vom übermächtigen Vater — präpariert, um jeden Preis die Würde des Ichs zu bewahren, wird das Durchkommen im nationalsozialistischen Alltag immer schwieriger. Als letzter Zivilist der Klasse, in provozierend englischen Knickerbockern, wird er Am Dobben von Hitlerjungen verprügelt. Der Lehrer kommt einmal wöchentlich nach Hause, um die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend zu erzwingen. Weil er einen politischen Witz erzählt, wird er von einem Schulkameraden denunziert und von der Schule gewiesen. Im Reichsarbeitsdienst kommt er wegen Aufsässigkeit in den Karzer. Eine Art Erlösung: Manchmal darf er nach Berlin, in Vaters Zweigbüro. Berlin, Berlin: Jeden Abend geht Jung-Henning ins Theater. Sieht alles, was heute Legende ist. Theater, Theater: ganz klar, Schauspieler will er werden, beginnt eine Ausbildung. Bittet alle seine Idole, ihnen vorsprechen zu dürfen. Fritz Rasp, der große Alte, wunderbarer Mann, Anti-Nazi, wie ein zweiter Vater, findet ihn begabt, will für ihn intervenieren nach der Schauspielprüfung. 1943, am Tag der Prüfung, kommt das Telegramm mit der Einberufung aus Bremen. So ist ihm sein erstes Leben abhanden gekommen.Als Soldat in der Strafkompanie desertiert er kurz vor Kriegsende und hadert immer noch mit sich, warum nicht früher.

1950 kam er aus russischer Gefangenschaft zurück und mit der Welt nicht mehr zurecht; er war auch zu dunkel geworden für's Rampenlicht. Der Journalismus war Zufall und Lösung: Machte er eben Film-und Theaterkritiken! Und weil damals die Filmproduzenten kostenlos zu Dreharbeiten einluden, kam er wieder auf „seine“ Schauspieler zurück. Hat mit Albers gesoffen, mit Käutner gefachsimpelt. Er ist gerne mit Schauspielern zusammen, macht stundenlange Interviews mit den letzten aus seiner Zeit. Die sterben ja alle weg. Ist stolz, daß sie ihm bestätigen, wie vorzüglich er mit ihnen umzugehen verstünde: „Sie spüren, daß ich den Schauspieler liebe.“ Und wenn man geliebt wird, ist man imstande, sehr viel zu geben, nicht wahr, sagt er da. „Der gute Schauspieler ist der, der sich in seiner Hosentasche ein Stück Kindheit bewahrt hat“, zitiert er Max Reinhardt. So wie er? Ja. Seine Begeisterungsfähigkeit, und wohl auch seine Leidensfähgkeit, die findet er tatsächlich an sich wichtig. Und doch scheint er die Echtzeit seines Traumas wie in einer Kapsel versenkt zu haben. Im Grunde, sagt er, ist er nicht erwachsen geworden, sondern in der Entwicklung stehen geblieben, diese Zeit haben die Nazis behalten.

Nach 20 Jahren als Theaterkritiker hat Henning Harmssen sein Leben der Erforschung der NS- Kultur-und Filmpolitik vermacht. Die Filmleute damals waren ja so naiv! Die meinten weit über '33 hinaus, sie seien immer noch Herren im eigenen Haus, obwohl Goebbels längst seine Leute eingschleust hatte. Die meisten Filmleute, sagt er, waren keine Nazis, zu wenig kleinbürgerlich. Vielleicht fühlt er sich deswegen bei ihnen so wohl. Das Naziregime war für ihn ganz klar das Regime der wildgewordenen, entfesselten Kleinbürger — willfährige Zielpersonen auch der Beschwichtigungsmaschinerie der Propagandafilms. Am gefährlichsten die Unterhaltungsschinken mit ihrer unterschwelligen Beeinflussung.

Er versucht, sich einen lückenlosen Überblick über alle zwischen '33 und '45 gedrehten Filme zu machen: 1150 etwa, nur ein Sechstel reine Propaganda. Also 800 hat er bestimmt gesehen. Seine Kenntnis will er jungen Leuten vermitteln: „Man kann nicht ohne Erinnerung leben.“ Will er sie vielleicht doch eines Tages einmal erledigt haben? Nein. Diesen Leuten damals ausgeliefert gewesen zu sein, das hat ihn so enorm geprägt, daß er es unehrlich fände, davon nichts mehr wissen zu wollen.

Er hat aber doch vor der Kamera gestanden: in dem Avantgardefilm „Nicht versöhnt“ von Jean-Marie Straub nach Bölls „Billard um halb zehn“. Die Geschichte jenes Architekten, der in der Nazizeit untertaucht und emigriert. Späte Erfüllung? Wie hat er sich gefühlt vor der Kamera? Es entsprach seinem Empfinden, sagt er einfach. Es gab nichts zu spielen. Es war eine fabelhafte Übung, sich zu konzentrieren auf einen Moment. Um Gotteswillen nichts machen. Sein wie man ist. Das Schwierigste. Kollegen haben anschließend gesagt, versuch's nochmal, du bist gut. „Aber ich weiß nicht: Es jetzt nochmal versuchen?“, fragt er mich mit leuchtenden Augen. Claudia Kohlhase