Einmalig um die Ecke

■ Der Südwestfriedhof Stahnsdorf inklusive Gaststätte »Waldidyll« — Meditationen und Kohlrouladen

Es ist Buß- und Bettag, und wir stehen auf dem Südwestfriedhof Stahnsdorf vor einem verfallenen Brunnen. Ein naßkalter Wind wirbelt durch die Kiefern und Buchen herunter, wie geschaffen für diesen Tag, den Tod näherbringend. Schwer zu sagen, ob ein Körper jenseits des Windes, ein Körper unter

der Erde sich nicht in

einem angegriffenen Zustand befindet.

Von Christel Ehlert-Weber

Mein Gott, diese vielen Menschen. Was wollen die bloß alle hier?« Karl Sturz ist im Gesicht bleich wie zu einem 1a-Begräbnis. Er bohrt die Hände derart heftig in die Taschen seines feinen Tuchmantels, daß es ihm die Schultern nach vorne zieht. Sein hagerer Körper neigt sich wie im Krampf aus Ekel vor solch lebendigem Gewusel an diesem »seinem« Ort.

»Man möchte sich dazulegen. Doch fürchte ich das Getrappel über meiner Ruhestätte.« Karl Sturz deutet mit einer Kopfbewegung auf ein Ehepaar. Mit Tannengesteck und Gießkanne bewehrt, schlingern sie durch die Grabreihen. Die von den Bäumen herabgefallenenen Chlorophyllkadaver machen die Wege glitschig. Es hat tagelang geregnet.

»Das hat jetzt keinen Sinn. Machen wir eine Pause«, schlägt Sturz vor und wendet sich dem Ausgang zu. Ich halte mich dicht hinter ihm. Denn obwohl ich ihn nun schon seit Tagen auf seinen Friedhofsgängen begleite, kann ich den Plan der Anlage nicht auf die tatsächliche Wegführung übersetzen. Zu unsymmetrisch ist der Aufbau, zu verschlungen sind die Pfade.

Karl Sturz ist privatisierender Friedhofs-Maniac. Was er mit »Pause machen« eigentlich meint, habe ich bis heute nicht begriffen, handelt es sich doch nur um die Unterbrechung seines obsessionierten Umhergehens auf dem Friedhof. Wie, frage ich mich, können Pausen und Obsession begrifflich kompatibel gemacht werden?

Mit dieser Frage im Kopf laufe ich im wahrsten Sinne des Wortes bei Karl Sturz auf. Denn wie angewurzelt ist er auf dem Platz vor dem Friedhofseingang stehengeblieben, so daß ich ihn von hinten anremple. Fassungslos starrt er auf das bewegte Treiben und murmelt: »Père Lachaise ist nichts dagegen.« Ein Blumenhändler hat seinen Tapetentisch am Straßenrand aufgebaut, eine Töpferin verkauft Keramik aus ihrem VW-Bus heraus. Wo an anderen Tagen kaum ein Auto zu sehen ist, wird jetzt um Parkraum gekämpft.

»Buß- und Bettag ist halt ein Feiertag für die Toten«, versuche ich ihn zu beruhigen. »Kommen Sie, machen wir erst mal eine Pause.« Doch er bleibt vor der Keramikauslage stehen und zeigt wortlos auf eine lustig bunte Tontafel mit der Aufschrift: »Hier wohnt Familie Weber«. Mein scherzhafter Kommentar, daß es sich dabei weniger um ein Grabplattenmodell als vielmehr um ein ausgefallenes, also zeitgemäßes Namensschild für die Wohnungstür handeln muß, kann Herrn Sturz nicht besänftigen.

Derart beruhigend auf ihn einredend, geleite ich Karl Sturz zu seinem Pausenort. Wenn ich auch nichts weiter um die Inhalte der Pause weiß, kenne ich inzwischen doch die Pausenrituale. Wir betreten eine ehemalige Bahnhofsgaststätte. Der dazugehörige Bahnhof wurde in den siebziger Jahren abgerissen. Seit dem Sommer 1990 nennt sich diese Lokalität, sozialmarktwirtschaftlich bedingt, »Waldidyll«. Trotz Bahnhofsabriß und Namensgebung hat sich jedoch auch in diesem gastronomischen Unternehmen das Gemisch aus Garküchenmief, sachlicher Bedienung und monopolistischer Perspektivlosigkeit hartnäckig in der Stahlrohrbepolsterung und dem Linoleumfußboden gehalten. Hier wird im besten Falle abgespeist; wahrscheinlicher aber qua Sättigungsbeilage an einer Heraufsetzung der toxischen Grenzwerte gearbeitet.

Die Kellnerin, eine Blondine mit schwarzen Netzstrümpfen, schwarzem Seitenschlitzrock und ärmelloser weißer Bluse, begrüßt meinen Begleiter mit einem vertraulichen: »Na, heute schon so früh zur Pause?« und entzündet den Kerzenstummel auf unserem Tisch. Beim Anblick ihrer nackten und bleichen Arme friert es mich noch mehr als draußen auf dem Friedhof. Karl Sturz perfektioniert die Tristesse, indem er sich seine obligatorische Kohlroulade bestellt. »Sollten Sie einmal probieren. In unserem Alter, mit 40 plus..., vollkommen unbedenklich«, fordert ermich auf. Doch ich bleibe bei meinem Mocca. Schweigend sitzen wir uns gegenüber.

Endlich kommt die Roulade. Sturz in seinem sichtlich teuren, dunklen Flanellanzug sitzt vor ihr wie ein meditierender Gourmetmönch. »Und«, frage ich. — »Die Toten sind nicht mehr besondere Wesen oder zum Austausch geeignete Partner, und das macht man ihnen deutlich, indem man sie mehr und mehr aus der Gruppe der Lebenden verbannt; von der häuslichen Intimität zum Friedhof (ein erster Sammelplatz noch im Herzen des Dorfes oder der Stadt), dann mehr und mehr aus dem Zentrum an die Peripherie verdrängt (ein erstes Ghetto als Vorwegnahme aller künftigen Ghettos) und schließlich ein Nirgendwo wie in den neuen Städten oder den gegenwärtigen Metropolen, in denen für die Toten nichts vorgesehen ist, weder im physischen noch im geistigen Raum.« — Er betrachtet seine Roulade. »Wer?« frage ich. »Baudrillard«, antwortet er und greift zu Messer und Gabel.

Bei der Suche nach den besonders deutsch-deutschen und endlich gesamtdeutschen Schicksalen war ich vor ein paar Wochen durch einen Zufall mit Karl Sturz bekanntgeworden. Auf dem Südwestfriedhof Stahnsdorf, einem der verwunschensten Plätze im Großraum Berlin. Zu Fuß oder mit dem Rad durch die Parforcer Heide zwischen Kohlhasenbrück und Steinstücken kommend, überquert man die Autobahn, hält sich nach links, bis der Kiefernwald fast unmerklich in einen Friedhof übergeht. Zunächst noch mag man denken, diese kantigen mit Efeu und Moos überwucherten Gebilde seien etwas zu hoch abgesägte Baumstümpfe oder witterungsbedingte Sinnestäuschungen. Doch es sind ausgewachsene, aus ihrer Fundamentierung gekippte Grabsteine. Überreste der Totenfelder, die sich der Wald in den letzten Jahrzehnten zurückgeholt hat. Eine tröstliche ätherische Symbiose von Tod und sich behauptender Natur.

Durch das Gesträuch der Peripherie gelangt man auf notdürftig instandgehaltene Wege. Der Kiefernfort geht in einen Mischwald von Fichten, Buchen, Eichen und riesigen Rhododendren über. Dazwischen überwachsene und seit Ewigkeiten sich selbst überlassenen Grabstellen, verfallene Gruften, zerbröckelte Portale. Und dort mittendrin drei Menschen.

Ein Mann und eine Frau, offenbar ein Ehepaar, denn sie fallen einander ständig gegenseitig ins Wort, reden auf einen Mann in dunklem Mantel und dunklem Hut ein. Die beiden zetern insistierend, der Mann mit dem Hut spricht bestimmt und ruhig. Ich bleibe stehen. Die Frau bittet mich als Schiedsrichterin hinzu. Ich solle entscheiden. Das Ehepaar sucht das Grab eines verstorbenen Anverwandten, das hier irgendwo liegen muß. Der Mann mit dem Hut will nicht, daß sie zur Identifizierung des Namens überall das Efeu von den Grabsteinen reißen. Der Hutmann sagt nichts. Ich gebe dem Ehepaar den schlichten Rat, sich mit einem Zwanzigmarkschein um die Hilfe der Friedhofsgärtner bei der Suche zu bemühen. Verärgert bahnt sich das Ehepaar einen Weg durchs Unterholz.

Der Hutmann und ich stehen uns ein wenig ratlos gegenüber. Schließlich dankt er für mein Verständnis und stellt sich als Karl Sturz vor. »Es werden täglich mehr«, erklärt er, »gestern zum Beispiel war der Filmkurs der 1. Oberschule Wilmersdorf hier. Ein Mädchen, Züleyka, sehr hübsch, erläuterte mir, sie sei die Hauptdarstellerin. Einen Videoclip würden sie hier machen: Orpheus und Eurydike. Lauter Kinder in weißen Gewändern und engagierte Pädagogen. Dabei gibt es doch so viele andere Dinge, die zu inszenieren wären, bevor man sich mit dieser Endgültigkeit hier konfrontiert — und sie damit zersetzt«, fügt er etwas atemlos noch hinzu. Dann schweigt er.

In den folgenden Wochen traf ich Karl Sturz häufiger. Konnte ich ihn auf dem weitläufigen Friedhof nicht finden, ging ich mittags um eins in die Friedhofs-/ Bahnhofsgaststätte, wo er um diese Zeit seine »Pause« machte.

Sturz ist gebürtiger und inzwischen dialektfreier Leipziger. Bis 1974 arbeitete er dort als Wohnungsbauarchitekt. In jenem Jahr veröffentlichte er in Kollegenkreisen ein auf Blaupause vervielfältigtes Manuskript. Sturz ging darin von der sozialistischen Plattenbauweise des modernen Wohnungsbaus aus (im Volksmund auch »Arbeiterschließfächer« genannt) und forderte ein Entweder-Oder: Entweder realisiert man diese Bestattung der Lebenden in einer japanischen Konsequenz; das heißt, man erhöht die Produktivität der Schließfachbewohner derart, daß sie in einer Bleibe von 2 * 2 * 4 Metern unterkommen können. Oder man orientiert sich im Wohnungsbau an einem gänzlich anderen, revolutionierenden Modell.

Letztere Möglichkeit formulierte Sturz bedauerlicherweise als einzurichtendes Forschungsprojekt, also weniger konkret. Die Tragweite seiner architektonischen Überlegung, den Friedhof als einzig lebenswerten Platz in einer Metropole und somit als Dispositiv der Städte- und Lebensplanung schlechthin zu begreifen, wurde nicht erkannt. Statt dessen wurde ihr Schöpfer aus dem Verkehr gezogen. Glücklicherweise, in Ermanglung einer rekonvaleszensversprechenden Psychiatrie, wurde er den Politischen zugeschlagen und 1977 von der Bundesrepublik freigekauft.

Frei, in der BRD, gründete Sturz 1978 ein kleines Innenarchitekturbüro und nahm mit seiner nüchternen Raumausstattung keinen geringen Einfluß auf das Design der achtziger Jahre (zahlreiche Veröffentlichungen über seine floatende Büro-Freizeit-Restaurant-Atomsphäre in 'art‘, 'Schöner Wohnen‘ etc.). Im Zuge dieser Tätigkeit gestaltete er auch die Räumlichkeiten eines Immobilienhändlers aus dem Frankfurter Raum, der nebenberuflich die Pflichten eines Notars, also Grundstücks- und Erbschaftsmittlers, ausübte.

Egal ob es die Konfrontation mit dem konsequenten Sturzschen Ambiente oder ein anderer mißlicher Alltäglichkeitszwischenfall war, der Immobiliennotar verstarb plötzlich am Schlag. Sturz heiratete wenig später, im zarten Alter von 33 Jahren, dessen 69jährige Witwe.

Ich verstehe nichts von Nekrophilie. Doch konnte mir Sturz in überzeugender Weise die ausdauernde Hochzeitsreise der Frischvermählten nahebringen: Sie bereisten alle kulturell wertvollen Friedhöfe dieser Welt. Angefangen mit den Weitläufigkeiten der kalifornischen Bestattungsfelder, dann zu den Totenschreinen des alten Japan, weiter Indien, China, die Sahelzone, Tiburtina, die Pariser Friedhöfe, die portugiesischen Urnenreihen an der Algarve, den Judenfriedhof in Prag... sogar die Pyramiden besuchten sie. Sturz verfertigte ununterbrochen Architekturzeichnungen. Seine Lebensbegleiterin räsonierte: »All diesen Gräbern sieht man nicht im mindesten das leidvolle Schicksal des Danach an. Das der unbestimmten Testamente zum Beispiel.« Sie verstarb auf dem Flug zwischen Nairobi und dem nicht mehr kopfjägernden Borneo.

Da Sturz sich weder für Ausgangsort noch Ziel als Begräbnisort entscheiden konnte, veranlaßte er ein Dazwischen: ein Seebegräbnis südwestlich von Bombay, nach vorausgegangener Verbrennung in Bremerförder, der Heimat der Verstorbenen.

Karl Sturz bereiste, infolge der Erbschaftsmodalitäten finanziell unabhängig, zwischen 1982 und 1989 weltweit rund 1.374 Friedhöfe. Der Mauerfall 1989 lockte ihn nach Berlin, und er entdeckte den Südwestfriedhof Stahnsdorf.

Karl Sturz kann mit Fug und Recht als Kapazität für Friedhofskultur bezeichnet werden. Bedauerlicherweise ist er dennoch außerstande zu erklären, weshalb nun gerade dieser ungefähr 1.375ste, der Stahnsdorfer Friedhof, ihn derart fesselt. Vollgestopft mit Wissen bringt er bloß Versatzstücke von Zitaten und unverständlich abstrakte Betrachtungen zur Äußerung.

Also habe ich mich bemüht, habe recherchiert und vor Wochen ein Gespräch mit Herrn Werthmann, dem Verwalter dieses Friedhofs, geführt. Herr Werthmann hat eine Position im Berliner Stadtsynodalverband, und Herr Werthmann ist freundlich. Der Stadtsynodalverband ist der Zusammenschluß der evangelischen Kirchen in Berlin.

Herr Werthmann sagte mir, daß der preußische Staat um 1900 die Gesetze änderte. Daß er sich damit die Pflicht vom Hals schaffte, den Kirchengemeinden das Areal für einen Friedhof zur Verfügung stellen zu müssen. Er erinnerte mich daran, daß Berlin 1900 2,2 Millionen Einwohner (inklusive der noch nicht eingemeindeten Vororte) hatte und 1925 mit mehr als 4 Millionen die drittgrößte Metropole der Welt war. Also verteuerten sich die Grundstücke und veränderten die stadtplanerische Konzeption: Es wurden große Friedhöfe für mehrere Gemeinden außerhalb der Stadtgrenze geschaffen.

Der Stahnsdorfer Friedhof ist solch ein Projekt. Auf 150 Hektar Ackerland wird ein Mehrgemeindenfriedhof (Kirchengemeinschaften aus Moabit, Charlottenburg und Schöneberg) konzipiert und 1909 eingeweiht. Um die Erreichbarkeit des Friedhofs sicherzustellen, baute der Synodalverband auf eigene Kosten eine S-Bahn-Linie von Wannsee nach Stahnsdorf (»Friedhofs- oder Leichenbahn«), die 1913 der Reichsbahn zur Verwaltung übergeben wurde. Die Bahn beförderte nicht nur die Lebenden, sondern auch die Toten: Sie wurden in Halensee und Steglitz an sogenannten Leichensammelstellen für die weitere Beförderung aufgebahrt.

1934 gab es 25.000 Grabstätten. 1944 sind es 100.000. Damit ist der Stahnsdorfer Friedhof zu einem der größten zivilen Totenanlagen Deutschlands geworden. Herr Werthmann versichert mir: In den Hoch- und Kriegszeiten gab es bis zu 20 Beerdigungen pro Tag. Damals hatten sie einen Personalstab von 200 Friedhofsbediensteten. 1961 kam die Mauer. Die Bahnverbindung wurde eingestellt. Die Trasse ist heute von der Autobahn, kurz hinter dem ehemaligen Kontrollpunkt, durchschnitten.

1987 und 88 gab es in Stahnsdorf rund 80 Beisetzungen. Kaum mehr als fünf Westberliner pro Jahr, eher Stahnsdorfer. Nach dem Fall der Mauer stieg die Zahl der Westler sofort. 30 Friedhofsangestellte arbeiten heute am Erhalt des Areals. Sogar ein Förster ist darunter, und es gibt für ihn auf diesem Waldfriedhof richtige Hochsitze. Entlassen wurde bis jetzt noch keiner der Arbeiter. Dafür sorgt die große Zahl der Grabinstandsetzungsaufträge. Allen voran die Familie Siemens mit einem Grabgelände von 1.100 Quadratmetern. Natürlich liegen viele berühmte Persönlichkeiten auf diesem Friedhof. Von Zille bis Langenscheidt. Doch all das kann man im kleinen Friedhofsführer von Wolfgang Gottschalk nachlesen, der sich im übrigen allerdings mit keinem einzigen Satz der Besonderheit dieses Friedhofs widmet.

***

Karl Sturz hat seine Kohlroulade verspeist. Dazu hat er heute fünf Bier getrunken. Das ist ungewöhnlich. »Das Unerträgliche am Tod ist das Eingereihtwerden«, spricht er leise über den Tisch, »eingereiht in eine Horde, die von einer anderen Horde schrebergärtnerisch verwaltet wird. Selten sind Zeit und Ort, da es zwischen den Lebenden und den Toten eine so schützende Grenze gab wie hier.«

Sein Kopf sinkt dicht neben dem Teller auf die Tischplatte.