Hilversums „Heiliger Krieg“

Hollands öffentlich-rechtliches Rundfunksystem kämpft ums Überleben und gegen die Privaten  ■ Von Henk Raijer

Jeder für sich und Gott gegen alle, so lautet derzeit die verzweifelte Devise in Hollands traditionsreichen Funkhäusern. Der unaufhaltsame Aufstieg der commercialos ist es, der den verbeamteten Fernsehbossen in Hilversum Angst macht. Und dazu haben sie allen Grund. Denn RTL-4, der niederländischsprachige Kabelanbieter mit Firmensitz in Luxemburg, hat in den zwölf Monaten seit Sendebeginn der Konkurrenz nicht nur offensiv die Stirn geboten, sondern sie im vergangenen Monat sogar erstmals auf die hinteren Plätze verwiesen. Über ein Viertel der Fernsehzuschauer konnte RTL-4 einem Bericht des Marktforschers Intomart zufolge im Oktober 1990 auf Hollands „heimlichem 4. Kanal“ binden — und das in der Hauptsendezeit, zwischen 18.00 und 24.00 Uhr.

Im selben Monat des Vorjahres hatte der Anteil der drei Fernsehkanäle Nederland 1, 2 und 3, auf denen sich die nach weltanschaulichen Prinzipien operierenden Anstalten VARA, KRO, AVRO, VPRO, EO, NCRV, TROS und Veronica tummeln, noch bei satte 80 Prozent gelegen. Nur: da existierte RTL-4 noch nicht! Heute drücken nur noch 53 Prozent der kabelverwöhnten Niederländer die ersten drei Knöpfe ihrer Fernbedienung, 27 Prozent entfallen auf RTL-4, und die restlichen 20 verteilen sich auf die deutschen, belgischen und englischen Sender.

Erst der Siegeszug eines ausschließlich nach kommerziellen Gesichtspunkten operierenden Senders brachte es ans Licht: das „System“ hat sich überlebt, ist völlig verkrustet. Da hilft auch nicht das leidenschaftliche Plädoyer von Kultusministerin Hedy D'Ancona, die beteuert, die „Öffentlichen“ im Kampf mit dem kommerziellen Drachen retten zu wollen. Das wollte schon einmal eine Regierung, Mitte der sechziger Jahre, als der Piratensender TV Noordzee seine bunten Programme einschließlich commercials in die niederländischen Wohnstuben strahlte, verboten wurde und sich mittels der üblichen Vereinsgründung schließlich doch einen Platz in der Traditionsrunde erobern konnte.

Vorbei sind die Zeiten, als im Nachbarland die Antennen noch auf „Säulen“ standen, die Zuschauergemeinden homogen, klar voneinander unterscheidbar und ideologisch gefestigt waren. Die damaligen Auseinandersetzungen um TV- Noordzee wie heute um RTL-4 sind ohne Kenntnisse der Entstehungsgeschichte sowie der politisch-ideologischen Prämissen der klassischen Sender kaum zu begreifen. Diese waren gleich in der Anfangszeit des Radios, Mitte der zwanziger Jahre entstanden, als in ihnen das zum Ausdruck kam, was die niederländische Gesellschaft insgesamt kennzeichnete: das Phänomen der Versäulung.

Die Versäulung äußerte sich in der Aufteilung der Gesellschaft in religiöse und soziale Blöcke (Säulen), deren organisatorische Struktur sich im Zuge von Industrialisierung, Demokratie und Parteienbildung herauskristallisiert hatte. Entstanden zunächst als Antwort der Religionsgemeinschaften auf die Herausforderungen des Industriezeitalters, stillten sie das Bedürfnis nach Gruppenidentität in kollektiver Selbstdarstellung. Ihre Grundlage war die weitestgehende Einbindung jedes einzelnen Bürgers in die weitgefächerte Gesamtstruktur einer „Säule“, sei es die katholische, die protestantische, die sozialistische oder die liberal-humanistische. Aufbauarbeit und Kontrolle oblag den Säulenideologen und deren Vertreter an der Basis. Die Institutionalisierung jener Versäulung, deren Strukturen sich bis etwa Mitte der sechziger Jahre halten sollten, wies den genannten Gruppen ein gesetzlich fixiertes Recht zu, in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens mit ihren Organisationen vertreten zu sein. Auf solcher Grundlage und streng voneinander abgeschirmt, entstanden politische Parteien, Gewerkschaften, Zeitungen, Schulen, Universitäten — und eben Rundfunkorganisationen.

Zwar haben die Niederländer seit der offiziellen Proklamation des „offenen“ Rundfunks 1966 den Staub von ihren alten Säulen geblasen; öffentlich-rechtlich im Sinne seines bundesrepublikanischen Pendants ist das niederländische omroep bestel dennoch nicht so ganz. Nach wie vor kennzeichen nicht Neutralität und politisch-gesellschaftliche Ausgewogenheit, sondern Sendungsbewußtsein die Programme auf dem Kabel (85 Prozent des Landes sind verkabelt). An die Stelle von angestrebter Überparteilichkeit setzt das Modell die organisierte Teilnahme gesellschaftlicher Gruppen an der elektronischen Massenkommunikation. Es gründet sich auf der Unabhängigkeit seiner Organisationen, auf ihrer Verschiedenheit und auf Offenheit für neue Entwicklungen. Sendezeit wird verteilt nach Maßgabe der Mitgliederzahl der Stiftungen und Vereine, finanziert werden sie durch die obligatorischen Gebühren, durch Mitgliederbeiträge und durch die Einnahmen aus dem Werbefernsehen.

Jahrzehntelang hatte sich das recht oder schlecht bewährt — bis Mitte der achtziger Jahre drei der Anstalten ausscherten und den Anteil weltanschaulicher Elemente in ihren Programmen zugunsten unpolitischen Entertainments zurückdrängten. Das wurde von Kulturpolitikern und Sendepäpsten nur unter Zähneknirschen hingenommen. Solange sie aber nicht gegen die Auflage, nach der Sendeanstalten ein vollständiges Programm anbieten müssen — das sowohl unterhaltende, als auch informierende, meinungsbildende und kulturelle Elemente enthalten sollte — verstießen, konnte ihnen nur eins verboten werden: die ausschließliche Ausrichtung auf die Erwirtschaftung von Profit.

Genau den aber wollen naturgemäß die „neuen“, die Protagonisten des „Fensehens ohne Grenzen“. Zwar waren die im Schutz des Gesetzgebers operierenden Sendeanstalten bei ihren Bemühungen, sich die unliebsame Konkurrenz vom Leibe zu halten, bisher durchaus erfolgreich — lediglich ein privater Anbieter, Veronique/RTL (heute RTL-4) bekam 1989 eine Genehmigung. Dennoch sind die Hilversumer Funkhäuser und ihr materielles Fundament — die Gelder, die den Programmgestaltern aus den Einkünften der Fernsehwerbung der „Stiftung Ätherreklame“ (STER) zufließen, heftig ins Wanken geraten. Seit immer mehr Menschen den „Kanal 4“ anwählen, überlegen potentielle Werbekunden natürlich auch, wen sie für ihre Produktwerbung um Sendezeit angehen. Zum ersten Mal seit 25 Jahren hat die STER Umsatzeinbußen zu verzeichnen. Da gibt es selbstverständlich auch weniger zu verteilen. Und das bringt wiederum die Bosse der Sendeanstalten in die Bredouille. „Der große Unterschied zwischen denen und uns ist, daß wir Geld wollen, um Programme machen zu können, und sie Fernsehen machen, um Geld zu verdienen“, so jüngst ein Sprecher der altehrwürdigen sozialistischen VARA.

Gemeint ist nicht nur der neue Anbieter auf dem Kabel. Auch AVRO, TROS und Veronica präsentierten 1988 einen Plan zur Kommerzialisierung ihres Kanals mit programmunterbrechender Werbung, mit privaten Sponsoren und Unterhaltung en masse. Sie setzen dabei auf die Ergebnisse vom Umfragen, die bestätigen, daß ein Großteil der Medienkonsumenten nunmal entschieden hat, daß ihre Vorliebe der uneingeschränkten Unterhaltung gilt. Und auf eigene Erfahrungen — bieten doch alle drei schon seit geraumer Zeit untereinander austauschbare geistige Schonkost an.

Seit nun auch noch ein weiteres Marktforschungsinstitut den Hilversumer Traditionsfunkern das endgültige Aus prophezeit hat für den Fall, daß sie Organisation und Programmgestaltung nicht einer Roßkur unterziehen, hat in den Vorstandsetagen das große Zittern begonnen. „Wenn die Traditionellen so weitermachen wie bisher, werden sie bald alles verlieren“, so das Resümee des Mckinsey-Berichts an das Haager Kultusministerium. Zu spät dämmert den Verantwortlichen, daß die fehlende Konkurrenz sie eingeschläfert hat. Und auch nachdem das Ausmaß der Bedrohung von außen deutlich geworden ist, gebären sich die Anstalten eher defensiv: Von „Bedrohung“ und „Überleben“ ist am häufigsten die Rede, Worte wie „Herausforderung“ oder „Kampf“ hört man auf den Fluren wenn überhaupt, dann nur geflüstert. Und bei „Reform“ schlucken die Fernsehprofis nur noch.

Vor genau einem Jahr sah es noch so aus, als würden sich die Öffentlich-rechtlichen gegen die drohende Verbannung ins medienpolitische Abseits verbünden. Wortgewaltig postulierten im Herbst 1989 die Vorsitzenden von VARA, KRO, NCRV, EO und VPRO, gemeinsam und solidarisch würden sie dem Neuling im Kabelnetz schon zeigen, daß sich der mündige Fernsehkonsument mit schnellebigem Angebot allein auf Dauer nicht binden ließe. Und so riefen sie sich gegenseitig zum „Heiligen Krieg“ gegen die unterhaltungsmäßige Flachkost auf. Die Losung: Qualität vor Quantität, und: Einschaltquoten sind nicht das alleinseligmachende Kriterium für Qualität.

Mit diesem Schlachtruf, so allgemein wie hehr und naiv, waren aber die Gemeinsamkeiten bereits erschöpft. Nur ein Jahr kommerzielles TV reichte aus, um die im September 1989 von Hedy D'Ancona noch kämpferisch lancierte Parole „Diesem System gehört die Zukunft“ schlicht vom Tisch zu pusten. Nun spüren sie den heißen Atem des kommerziellen Fernsehens im Nacken, die Sachwalter des publiek bestel. Doch von konkreten Konzepten ist nichts zu spüren. Im Gegensatz zu den Beteuerungen vom letzten Herbst kämpft jede Anstalt für sich allein. Keinerlei Anzeichen von Abstimmung, kein Beschluß zur programmatischen Zusammenarbeit und kein Wort über die Möglichkeit einer gemeinsamen Position hinsichtlich der Zukunft des Öffentlich- rechtlichen Systems. Es herrscht Ratlosigkeit, wenn nicht gar Panik in den Amtststuben der Hilversumer Säulenideologen.