: Russisches Revirement
■ Ryschkows Rücktritt: Einmal muß auch der Zäheste gehen KOMMENTARE
Ginge es nur nach Goethes „Wer immer strebend sich bemüht“, so könnte Nikolai Ryschkow gelassen dem Urteil über seine Amtsführung entgegensehen. Der stets der Pflicht folgende, todernste Apparatschik hat sich wirklich redlich abgerackert, um zwei nicht vereinbare Projekte zum Erfolg zu führen: die Rettung der Sowjetunion als eines von der Nomenklatura beherrschten Großreiches und ihre gleichzeitige Modernisierung. Stets war er zur Stelle, wenn es galt, die Privilegien der ehemaligen Staatspartei, sei es auch unter gewandelten Bedingungen, in die postkommunistische Ära zu retten. So noch im Herbst anläßlich des neuen Vereinigungsgesetzes, als er erfolgreich die Auflösung der KP-Parteizellen in den Betrieben und die Entpolitisierung des KGB sowie der Streitkräfte verhinderte. Ryschkow war und ist Interessenvertreter der vielhunderttausendköpfigen Hydra des zentralen Apparats. Er ist selbst ein Kind dieses Ungeheuers, seit er als Ingenieur 1951 in die „Ural-Mash“ eintrat, deren Generaldirektor wurde, um von dort ins Schwermaschinenministerium und schließlich 1975 zu Gosplan überzuwechseln. Als einer der Sekretäre des ZK wurde er Nachfolger Kossygins, dessen Leichenbitter-Attitüde er binnen kurzem perfekt nachahmte.
Zwangsläufig geriet das Kabinett Ryschkow in Gegensatz zu den konsequenten Verfechtern der ökonomischen Reform, die sich um den Ökonomen Schatalin sammelten. Der Kernpunkt der Auseinandersetzung betraf die Frage, ob die Reform im wesentlichen dezentral, d.h. von den souverän gewordenen Republiken oder von der weiterbestehenden Zentrale angepackt werden sollte. Im ersteren Fall wären der Zentrale koordinierende und einige indirekt steuernde Befugnisse verblieben, im zweiten Fall wäre sie nach wie vor Herr des Verfahrens gewesen. Gorbatschow hat hier allzulange geschwankt. Erst jetzt — unter dem Druck der Realität — scheint er endgültig auf das dezentrale Modell einzuschwenken und seine außerordentlichen Vollmachten nicht gegen, sondern in Übereinstimmung mit den Republikführungen gebrauchen zu wollen. Ryschkow war und ist in dieser Frage anderer Meinung. Daß er, dessen Rücktritt schon fast zur rituellen Forderung auf politischen Versammlungen in der ganzen Sowjetunion geworden war, jetzt einer Verfassungsumbildung zum Opfer fallen wird, ist eine der Absonderlichkeiten der Perestroika: da man den Mann nicht schassen kann oder will, versucht man, den Amtssessel zu kassieren. Ein Stühlchen für den Premierminister wird sich sicher auch künftig finden — und sei es nur auf der Datscha, die er in weiser Voraussicht dieses Jahr so preisgünstig erwerben konnte. Christian Semler
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