Alles Schwindel

■ Der Mathematikprofessor Fritz Ulmer zum Gehalt von Wahlprognosen INTERVIEW

taz: Herr Prof. Ulmer, Sie haben die Wahlprognosen in der BRD als „reinen Schwindel“ bezeichnet. Warum taugen Wahlprognosen nichts?

Prof. Ulmer: Weil das, was als Prognose veröffentlicht wird, nicht auf tatsächlichen Erhebungen beruht, sondern auf Spekulationen. Zunächst einmal geht es um die Aussagekraft des sogenannten repräsentativen Querschnitts. Darunter stellt sich der Laie ein Miniaturbild der Bevölkerung vor, und so wird das ja auch von der Prognose- und Meinungsforschungsindustrie verkauft. In Wirklichkeit ist das etwas vollkommen anderes. Der repräsentative Querschnitt ist ein Lotterieprodukt. Es werden 1.000 Leute zufällig ausgewählt, also ein bunt zusammengewürfelter Haufen, je zufälliger, desto besser. Von Miniaturbild keine Spur, wohl aber von einem gut orchestrierten Etikettenschwindel! Aus mathematisch-statistischen Gründen ist es nämlich unmöglich, mit Hilfe einer Meinungsumfrage das politische Kräfteverhältnis genügend genau zu bestimmen, d.h. die großen Parteien auf 1 Prozent und die kleinen auf 0,5 Prozent genau. Das geht allenfalls auf der Basis von 100.000 abgegebenen gültigen Zweitstimmen, die man am Wahlabend „per Lotterie“ aus den Urnen entnimmt, wie das bei Hochrechnungen theoretisch der Fall sein könnte. Aber auf der Basis einer Meinungsumfrage von 1.000 oder 2.000 Interviews eine Wahlprognose zu erstellen, wie das Frau Noelle-Neumann in der FAZ, das Politbarometer im ZDF und der Spiegel laufend tun, ist nicht nur statistischer Schwindel, das ist statistischer Betrug.

Lotterie und statistischer Betrug

Mit welchen Fehlern ist bei einer Wahlprognose zu rechnen?

Für die großen Parteien beträgt der Fehlerspielraum 8 Prozent, für die kleinen 4 Prozent. Das heißt z.B., daß Frau Noelle-Neumann ihre am 14. November in der FAZ veröffentlichte Prognose für den Westteil der Bundesrepublik so hätte darstellen müssen: CDU/CSU 38,6-46,8 Prozent, SPD 32,3-40,3Prozent, FDP 8,5-12,5Prozent und für die Grünen 6,7-10,7 Prozent. Entsprechendes gilt für das Politbarometer im ZDF und auch für den Spiegel. Weil solche Resultate für einen Demoskopieendverbraucher vollkommen wertlos sind, werden sie nicht veröffentlicht. FAZ und Spiegel wollen ihre Auflage verkaufen, nicht einstampfen. Was von den veröffentlichten Spiegel-Zahlen zu halten ist, geht aus der Prognose hervor, die der Datenfabrikant des Spiegels, das Emnid-Institut, für die Bundestagswahl 1987 am 24.1.1987 in Bielefeld notariell beglaubigen ließ: CDU/ CSU 42,3-49,2 Prozent, SPD 32,9-41,1 Prozent, FDP 5,8-10,2 Prozent, Grüne 5,8-10,2 Prozent. Ich weiß nicht, was in dem Notar vorging, als er am 26.1.1987 den versiegelten Umschlag öffnete. Vielleicht bereitete er sich innerlich darauf vor, demnächst den Inhalt eines Telefonbuchs notariell zu beglaubigen.

Die Wahlforscher behaupten, daß sie über die Gewichtung der erhobenen Rohdaten zu Ergebnissen kommen, die dem tatsächlichen Wählerwillen annähernd entsprechen.

Die Wahlergebnisse der letzten 25 Jahre eignen sich eher zur Prognose

Das entspricht nicht den Tatsachen. Bei der Forschungsgruppe Wahlen, die das Politbarometer im ZDF macht, kann man ja die Entstehung der Prognose verfolgen. Das tatsächliche Umfrageergebnis spielt kaum eine Rolle. Man schmeißt die Ergebnisse auf die Frage „Wie würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?“ in den Müll. Die Meinungsumfrage hat also eine reine Alibifunktion.

Wolfgang Gibowski von der Forschungsgruppe Wahlen hält Ihnen vor, daß Ihre Kritik dann eine Berechtigung hätte, wenn die Institute nur eine Umfrage im Jahr durchführten. Durch die vielen Umfragen würden aber Trends und Stimmungen sichtbar, die sich dann zutreffend interpretieren ließen. Davon verstünden Sie als Mathematiker eben nichts. Die vielen korrekt vorausgesagten Wahlergebnisse belegten das.

Nun, Herr Gibowski hat eine schlechte Erinnerung. Es ist doch eine Tatsache, daß die Prognosen manchmal danebenliegen. Ich erinnere an die Saarwahl 1985, wo Frau Noelle-Neumann eine absolute Mehrheit für die CDU prophezeite. Die absolute Mehrheit kam dann auch, aber für Oskar Lafontaine. Bei Landtagswahlen stimmen die Wahlprognosen oft überhaupt nicht. Frau Noelle-Neumann ließ letztes Jahr im ZDF verlauten, daß sich nur Bundestagswahlergebnisse hinreichend genau voraussagen ließen. Ein solches Eingeständnis spricht ja Bände. Nun, man kann nicht bestreiten, daß die Bundesrepublik in den letzten 25 Jahren außerordentlich stabil war. Die CDU hatte einen Anteil zwischen rund 45 und 50 Prozent, die SPD (einschließlich der Grünen) zwischen 40 und 43 Prozent und die Swing-Partei FDP zwischen 5 und 10 Prozent. Bei diesem kleinen Spielraum liefern die früheren Wahlresultate in jedem Fall eine bessere Grundlage als die aktuelle Meinungsumfrage. Die Politwetterfrösche benutzen einfach diese Stabilität als unausgesprochene Grundvoraussetzung. Sie gehen — unausgesprochen — davon aus, daß es auch künftig so bleibt, wie es bisher war. Ich werfe den Wahlforschern vor, daß sie vorgeben, die Volksmeinung zu messen, anstatt zu sagen, daß sie einfach die alten Wahlergebnisse fortschreiben. Wenn sich aber einmal wirklich etwas ändert, gehen die Prognosen in die Hose. Man hat das 1989 beim Auftauchen der Republikaner gesehen, ebenso wie bei den Prognosen für die DDR im März. Das war ja absurd, was die damals veröffentlicht hatten. Der Grund ist einfach: Sie hatten keine Wahlergebnisse, die sie fortschreiben konnten, sie waren auf ihre Meinungsumfragen angewiesen, und das Ergebnis war jämmerlich.

Wenn SPD-Anhänger Ihre Kritik hören, könnten sie möglicherweise Hoffnung schöpfen. Wenn eh alles Schwindel ist, dann hat Lafontaine vielleicht ja doch noch eine Chance. Kann man Ihre Kritik so werten?

Nein, das kann man daraus nicht schließen. Horoskope sind ja gelegentlich auch wahr. Wie die Bundestagswahl ausgeht, werden wir am 2.12. sehen. Ich weiß aber, daß die Zahlen, die jetzt wieder haufenweise veröffentlicht werden, getürkt sind. Zum Beispiel hat das Oktober-Politbarometer für die CDU in der alten Bundesrepublik sogar eine absolute Mehrheit gemessen. Das wagten die nicht zu veröffentlichen. Also haben sie es auf etwa 45-46 Prozent heruntergeschummelt.

Frau Noelle-Neumann liest im statistischen Kaffeesatz

Frau Noelle-Neumann veröffentlicht fortlaufend Umfrageergebnisse in der FAZ. Da steht z.B. am 14.11., daß die CDU mehr als 2 Prozent verloren habe und gegenüber der vorangegangenen Umfrage nun bei 42,6 statt bei 44,3 Prozent liege. Was ist von einer solchen Trendfeststellung zu halten?

Das hat Frau Noelle-Neumann im statistischen Kaffeesatz gelesen. Nach meinem Rechtsempfinden ist eine solche Aussage Betrug, weil man so etwas gar nicht messen kann.

Wie lautet Ihre Prognose?

Meine Botschaft an das deutsche Wahlvolk lautet: Hört nicht auf diese Wahlprognosen. Wählt, wie ihr es für richtig haltet. Geht an die Urnen und laßt euch von diesen Spekulationen der Wahlforscher nicht beeinflussen. Aber wer ein Wahlhoroskop braucht, soll sich das Politbarometer ansehen, die Orakelsprüche von Frau Noelle-Neumann in der FAZ lesen oder gespannt der Botschaft lauschen, die der Hofastrologe Emnid von König Rudolf Augstein im 'Spiegel‘ von sich gibt.

Was ist der Unterschied zwischen einem Horoskop und einer Wahlprognose?

Horoskope werden nicht getürkt. Interview: Walter Jakobs

Fritz Ulmer (52) lehrt an der Universität Wuppertal. Seit mehreren Jahren widmet er sich u.a. dem Gebiet der Meinungsforschung. Seine letzte Veröffentlichung zum Thema: „Wahlprognosen und Meinungsumfragen — und der Ablaßhandel mit Prozentzahlen“. Demokrit Verlag Tübingen 1989.