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Berlins Zukunft: Regierungssitz und Dienstleistungsmoloch

■ Null Interesse der Industrie am Standort Berlin?/ Interview mit Wirtschaftssenator Peter Mitzscherling (SPD)

taz: Wird Berlin wirtschaftlich davon profitieren, wenn die Stadt Regierungssitz wird?

Mitzscherling: Zweifellos. Erst einmal aber sind wirtschaftliche Probleme nach der Vereinigung der Stadt vorherrschend: kaputtgehende Betriebe im Ostteil und im Umland, Beschäftigungslosigkeit. Auch die wachsende Attraktivität der Stadt hat Schattenseiten: rasant steigende Grundstückspreise und Gewerbemieten sowie weitere Aspekte, die das Leben des einzelnen jetzt schon tangieren. Zum Beispiel die Konfrontation mit Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt. Allein aus ökonomischen Gründen — von den finanzpolitischen ganz zu schweigen — wäre es eine riesige Erleichterung, wenn eine Entscheidung zugunsten Berlins als Regierungssitz fallen würde.

Gehen Sie ernsthaft davon aus, daß dadurch ökonomische Zwänge ausgelöst werden?

Sicher. Zum Beispiel siedeln sich hier dann Interessenverbände und Vereinigungen an und auch Unternehmenszentralen werden wieder in die Stadt zurückkehren. Hinzu kommt, daß Ministerien nicht nur Ministerialräte und -direktoren beschäftigen, sondern einen ganzen Apparat an verwaltungstechnischem Personal. Außerdem — wenn Berlin Regierungssitz wird — kommen Gelder in die Stadt zur Restaurierung der Bausubstanz, der Infrastruktur. Das ginge dann alles viel schneller.

Diese Gelder für den Regierungssitz wären jedoch zweckgebunden: Davon profitiert dann weniger die Infrastruktur des Gemeinwesens Berlin als die der Ministerien und Parlamente...

Denken Sie doch mal an Bonn. Da wird zwar Geld gegeben, aber das ändert nichts an den normalen Entscheidungsabläufen, die für eine Stadt wie Berlin natürlich auch gelten. Da müssen nach wie vor Planungsvorläufe vorhanden sein, es müssen Erörterungstermine stattfinden, sie müssen sich der öffentlichen Meinung stellen. Daran ändert auch der Regierungssitz nichts.

Der Abbau der Berlinförderung wird in der Stadt nur schwer zu verkraften sein, zumal massiv Geld in den Ostteil und das Umland investiert werden muß. Nun hat die AL in Sachen Berlinförderung einen Umstrukturierungsvorschlag gemacht und eine Begrenzung der Berlinförderung auf 4.800 Mark pro Jahr und Kopf gefordert. Das würde lediglich die 5.000 Berliner treffen, die jährlich über 250.000 Mark verdienen und somit über die Hälfte der gesamten Berlinförderung einstreichen. Die AL schlägt vor, mit dem eingesparten Geld in Höhe von rund 600 Millionen Mark den Aufbau im Umland voranzutreiben. Ist das auch für Sie vernünftig?

Das ist doch alles blanke Illusion. Der Bundesfinanzminister will nicht irgendwas in einen Fonds stecken. Der will kassieren. Was weg ist, ist weg. Man kann jetzt darüber meditieren, ob das sozial gerecht ist, daß die Millionäre da genauso Präferenzen haben. Man muß immer bedenken, daß die Mittelständler, die Handwerker, vom Berlinförderungsgesetz fast nur über die 30-prozentige Einkommenssteuerpräferenz profitieren. Der Mittelständler mit seinem Einkommen um 150.000 bis 200.000...

Der wäre nicht betroffen.

Der Handwerker bildet doch Rücklagen. Es gibt welche, die haben 300.000 Mark, aber die bestreiten damit auch ihr Betriebsdasein. Das ist der Irrglaube der AL, daß eine Kürzung in diesem Bereich dazu dienen könnte, Mittel für andere Zwecke freizumachen. Wir haben Bonn ja ein Angebot zum Abbau der Berlinförderung gemacht. Die reden noch nicht mal mit uns. Die Bereitschaft, die Nöte der Stadt überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, ist bei der Europäischen Gemeinschaft in Brüssel größer als in Bonn.

Erwarten Sie, daß der Regierungssitz und die damit verbundenen Arbeitsplätze auch nur annähernd das ausgleichen können, was Gesamtberlin jetzt durch Abbau der Berlinhilfe und den sinkenden Steuereinnahmen pro Kopf verloren geht?

Der Steuerrückgang pro Kopf beruht im Moment ja darauf, daß der Ostteil keine Steuerkraft hat. Das wird sich ändern, sobald dort wieder Einkommen erzielt werden. Die kommen natürlich erstmal aus dem öffentlichen Dienst, weil sie aus dem öffentlichen Haushalt bezahlt werden. Die Lohn-und Einkommenssteuerpflichtigen im öffentlichen Dienst werden einen ganz beträchtlichen Teil des Lohnsteueraufkommens der Stadt bestreiten. Aber das dauert ein paar Jahre. Sie können nicht von heute auf morgen alle Ministerien nach Berlin holen. Auch Daimler Benz wird vor 1995 nicht fertig sein. Das gilt auch für das World Trade Center und Teleport und die ganzen Hotels, die jetzt auf der Matte stehen. Berlin wird also in den nächsten zwei bis drei Jahren ein Tief vor sich haben. Ab 1994 werden dann aber die Auftriebskräfte in ganz Berlin spürbar sein.

Soll das heißen, daß die Unternehmen schon ungeduldig vor der Tür stehen?

Massenhaft. Gemeint sind natürlich nicht die Konzernzentralen — da ist Daimler Benz die einzige. Allerdings hat mir eine große deutsche Bank signalisiert, sie würde ihre Zentrale wieder nach Berlin verlegen — vorausgesetzt, Berlin wird Regierungssitz. Das ist mir in Gesprächen auch von anderen Unternehmen, und zwar vor allem aus dem Dienstleistungsbereich, gesagt worden. Das ist klar, die suchen die Nähe zum Entscheidungszentrum. Das Problem ist: Wir haben im Westteil der Stadt faktisch keine Grundstücke mehr.

Die Industrie, so befürchten viele, könnte sich statt dessen im Umland, also in Brandenburg ansiedeln. Nicht zuletzt sind die Lohnkosten dort geringer. Davon hätte Berlin aber nichts...

Die Tendenz geht dahin, aber nicht wegen der Lohnkosten, sondern wegen der billigeren Grundstücke und der Möglichkeit, sich auszudehnen. Das wird sich schnell annähern. Wer sich heute in den neuen Bundesländern ansiedelt, der tut das nicht wegen der niedrigeren Lohnkosten. Der Trend wird auch dort in Richtung Dienstleistung gehen. Da werden neue Berufe entstehen, die es bisher gar nicht gab, vor allem im Dienstleistungsbereich. Und da wird die Lohnangleichung ziemlich schnell vonstatten gehen.

Angenommen, industrielle Unternehmen bilden in der nächsten Zeit einen »Speckgürtel« um Berlin, wäre es da nicht zwingend, ein Land Berlin-Brandenburg zu bilden?

Wir haben immer empfohlen, das Land Berlin-Brandenburg zu bilden. Auch für Brandenburg wäre es sehr nützlich, ein Land Berlin-Brandenburg zu bilden. Die Hauptstadt könnte dann durchaus Potsdam sein.

Wenn der Regierungssitz wirklich so dringend nötig ist, wo bleibt dann eine ressortübergreifende Planungsgruppe, die vor diesem Hintergrund ein Gesamtkonzept für die Stadt skizziert?

Im Prinzip gibt es die schon. Wir haben eine Kommission unter Leitung des Regierenden Bürgermeister, in der mehrere SenatorInnen, aber auch Vertreter der Gewerkschaften, Arbeitgeber, der Chef der Landeszentralbank usw. sitzen. Die treffen sich einmal monatlich, haben erstmal Bestandsaufnahmen gemacht und sich dann sehr schnell Richtung Hauptstadt orientiert. Was die Gesamtplanung betrifft, so sind bestimmte Entscheidungsschienen durch die gemeinsamen Sitzungen von Magistrat und Senat einbezogen.

Es entsteht aber der Eindruck, daß zwar an einzelnen Sachfragen diskutiert wird, aber eine übergreifende Planung darüber, wie Berlin aussehen soll, bislang fehlt. Anders gefragt: Welche flankierenden Maßnahmen bei der Planung eines Regierungssitzes müssen unbedingt vollzogen, welche Fehler müssen unbedingt vermieden werden?

Frau Schreyer hatte in ihrer Verwaltung, ebenso wie Herr Nagel und Herr Wagner, eine Vorplanung entwickelt. Eine genaue Planung ist einfach deshalb noch nicht möglich, weil eine definitve Entscheidung über den Standort des Regierungssitzes noch nicht gefallen ist. Im Grunde wäre es notwendig, eine Planungsgruppe einzurichten, die die Planung für Olympia 2000 und Regierungssitz verzahnt.

Welche wirtschaftspolitischen Fehler muß man vermeiden?

Fehler sind jetzt schon gemacht worden — vor allem in der Grundstücksproblematik. Es gibt nirgendwo in den neuen Bundesländern so viele vermögensrechtliche Ansprüche wie im Ostteil der Stadt. Die blockieren alles. Das gilt nicht nur für diejenigen, die drüben mal Betriebe hatten. In den Randbezirken Ostberlins liegen zahlreiche Grundstücke, vor allem Garten- und Laubengrundstücke, die früher einfachen Berlinern gehörten. Das bedeutet eine irrsinnige Beanspruchung für die Administration...

Was hätte man machen sollen?

Man hätte von Beginn an eine wirklich praktikable gesetzliche Regelung schaffen müssen, die die Verfügbarkeit über diese Grundstücke für den Staat ermöglicht. Die ist auch heute noch nötig. Es bleibt gar nichts anderes übrig, wenn man nicht eine Prozeßwelle von zehn, zwanzig Jahren erleben will — quasi ein Beschäftigungsprogramm für Anwälte und Richter. Wer einen rechtmäßigen Anspruch hat, muß natürlich in angemessener Weise entschädigt werden, in Form von Geld oder in Form von Ersatzgrundstücken.

Wir werden in Absprache mit der Treuhand eine Landesentwicklungsgesellschaft gründen. Die ist eine 100prozentige Tochter der Landesbank, deren Aufsichtsratsvorsitzender ich bin. Ich habe mit Herrn Rohwedder (Vorstandschef der Treuhand, d. Red.) vereinbart, daß wir nicht betriebsnotwenige Flächen der Kombinate aufkaufen, die wir dann abgeben können.

Lange Zeit war zu hören, daß Sie nicht mehr einem Kabinett Momper angehören wollen. Jetzt scheint das nicht mehr so klar zu sein. Haben Sie sich entschlossen, im Falle des Wahlsieges der SPD sich wieder als Wirtschaftssenator aufstellen zu lassen?

Ich werde im nächsten Monat 62 Jahre alt, und ich bin gesundheitlich angeschlagen. Ich habe das Amt damals übernommen, weil die Partei jemanden brauchte. So etwas mache ich nicht mit links, sondern mit vollem Einsatz. Ich habe keine Wochenenden und eine Familie und Enkelkinder, die ich schon gar nicht mehr kenne. Das ist eine Zumutung für alle Beteiligten. Aber ich werde gedrängt von meiner Partei.

Interview: Martina Habersetzer

Andrea Böhm

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