ZWISCHEN DEN RILLEN VONCARLOINGELFINGER

Zu einer Zeit, als die Bezeichnung race records Rassentrennung ganz unschuldig offenbarte und signalisierte: „Heiße“ Musik, nur für Schwarze!, als die Hits auf diesen Platten dann die Harlem Hitparade rauf und runter kletterten, als der Rundfunk sich weigerte, die Songs mit diskret oder indiskret obszönen, bildhaften, witzigen, bösartigen Texten, in denen sich Sänger und Sängerinnen nicht nachstanden, zu senden — in jenen idyllischen Tagen also hatte Louis Jordan seine großen Erfolge, der später sagte: „Als Bill Haley auf der Bildfläche erschien, hatte er denselben boogie-shuffle drauf wie ich.“ Das war kein Zufall. Jordan hatte seine Riffs Bill Haley persönlich vorgesungen.

Louis Jordan hatte 1938 das Orchester Chick Webb (Sängerin: Ella Fitzgerald) verlassen und seine „Tympani Five“ gegründet. Sein federnder Rhythmus, seine eingängigen Melodien, seine Sandpapierstimme, sein kehliges Altsax und seine augenzwinkernden Texte wurden immens populär. Zwischen 1956 und 1958 aufgenommene Remakes seiner größten Hits — zum Teil produziert von Quincy Jones — bilden mit den besten Teil der Anthologie Mercury R&B 46-62. „Remake“ bedeutet dabei nichts Abgestandenes und Aufgewärmtes; Jordan und die Creme New Yorker R&B-Studiomusiker spielen die Songs mit professionaler Spontaneität, Jordans unverwechselbarer Sound ist nur durch die E-Gitarre Mickey Bakers den Fifties angepaßt.

R&B war nur eine Domäne von Dinah Washington, die mit Balladen und Jazz als „crossover“-Künstlerin auch ihre weißen Fans hatte. Ihre in den schnellen Stücken fast metallische Stimme kontrastiert wirkungsvoll mit den Begleitcombos; Saxophonstars wie Arnett Cobb, Wardell Gray und Paul Quinichette blasen die Soli.

Ätzendere Texte, eine manchmal etwas schwerfällige Big Band, ein muskulöseres, geschmeidigeres Altsax und als Stilelement seines Gesangs häufige Kiekser unterscheiden den Blues-Shouter Eddie „Cleanhead“ Vinson von Louis Jordan. Arrangements und Instrumentalsoli der Aufnahmen von 1946 wurzeln im Swing und lassen Spuren von Bop ahnen.

Aus dem Rahmen fallend und glücklicherweise trotzdem in der Anthologie vertreten ist die New-Orleans-Legende Roy Byrd alias Professor Longhair. Er fügt der Ballroom- und Klubatmosphäre noch die Kneipenstimmung hinzu: Schlampig produzierte Aufnahmen, mit kratziger Stimme gesungene Klassiker der Gemeinheit wie Her Mind Is Gone und Baldhead samt Schlichtest-Sax-Einlagen und einem rohen Garagensound. Byrds exzentrisches Klavierspiel ist am besten zu hören im bisher unveröffentlichten Byrd's Blues.

41 Aufnahmen hat Mercury gesammelt, lauter typische Drei-Minuten-Stücke für Jukebox- Gebrauch. Programming auf dem CD-Player lohnt sich. Eine Stunde R&B vom besten solte jede/r aus den zwei CDs nach ganz persönlichem Geschmack destillieren können.

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Den rundlichen, schmalzlockigen Bill Haley als Idol der Rock'n'Roll-Mischung aus schwarzem Rhythm&Blues und weißem Country&Western löste bald der charismatische Junge aus Tupelo mit dem lasziven Timbre und den zuckenden Hüften ab, vor allem, nachdem der Konzern RCA 1955 Elvis dem lokalen Memphis-Label „Sun“ für 40.000 Dollar abgekauft hatte. Im Deal waren auch alle bisherigen „Sun“-Aufnahmen von Elvis enthalten. Wer sie jetzt samt alternativer Takes und Fehlstarts am Stück hört, kann sich an einer Denkmalsschändung delektieren. Es sind unverzichtbare Bestandteile des Elvis-Mythos dabei wie That's Allright, Mystery Train und Just Because, aber auch mit kippender Stimme vorgetragene Cowboy-Schmachtfetzen. Durchgehend wird Elvis' legendärer Schluckauf durch den legendären Halleffekt des Sun-Studios von Sam Phillips verstärkt. Köstlich sind die verschiedenen Versionen von I Love You Because mit gepfiffener Einleitung und gequetschtem Sprechgesang. Man meint zu hören, daß Studioboß Philipps zwischen den takes seinen Schützling zu deutlicherer Artikulation mahnt. Der Effekt bleibt bescheiden. Ein angenehmer Zeitvertreib, die witzige Zeitreise mit Elvis ins Memphis der Fünfziger. Ein paar kleine Rohdiamanten sind zu entdecken wie der ehrlich-kitschig vorgetragene Blues When It Rains, It Really Pours.

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In keine Kategorie — wenn nicht in die Kategorie „New Orleans“ als Stadt, als Begriff, das als Assoziation schon eine Kategorie ist — fallen die Wild Magnolias, einer der „Indianerstämme“, in denen Schwarze federgeschmückt Mardi Gras feiern und den Ruf der Stadt als Tourismusmagnet mehren. Basis ihrer Musik ist traditioneller Frage- und Antwort-Sprechgesang, der zwischen dem heiseren, schreienden Lead von „Big Chief“ Bo Dollis und den mit Tambourinen und anderen Rhythmusinstrumenten ausgestatteten Stammesmitgliedern hin- und hergeht; besonders aufregend in Jockomo und Iko, Iko. Dazu kann alles kommen, was New Orleans an Musikstilen bereithält: Marching Bands, Dixie (mit der Trompete von Milton Batiste), Rumba, ein Schuß Cajun, Soul und Blues (mit der E-Gitarre von Blind Snooks Eaglin), Funk (mit Bassist George Porter und Keyboarder Ron Levy), eine Spur Modern Jazz mit dem Sax von Stackman Callier. Mal schmeckt dies vor, mal jenes, mal wieder ist es Rhythmus pur. Mein Lieblingsstück ist Shallow Water Oh Mama. Selten habe ich so unmittelbar gehört, auf welche New-Orleans-Tradition Charles Mingus in den Kollektivimprovisationen seiner Gruppen zurückgriff

Mercury R&B 46-62, Mercury 838 243-2, Elvis Presley: The Complete Sun Sessions, RCA R32P-1122 (Japan-Import über Aris), Bo Dollis&The Wild Magnolias: I'm Back... At Carnival Time!, Zensor ZS 101.

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