Die Menschen strapaziert

Eine neue Oper nach Wlater Hasenclever von Detlef Müller-Siemens in Mannheim  ■ Von Frieder Reininghaus

Auflauf auf der Bühne. Menschenauflauf in hellem Licht. Doch zeigt das Mannheimer Nationaltheater zunächst eine Situation, die (im wirklichen Leben) das Licht scheuen dürfte und möglichst auch die Zuschauer: Mord auf dem Friedhof.

Um die Abbildung von Wirklichkeit ging es jedoch schon Walter Hasenclever nicht, als er 1918 das Drama Die Menschen aufs Papier schleuderte: Das war ein weiterer Wurf rücksichtslos expressionistischer Kunstäußerung. Der Sprachduktus ragt weit aus dem Alltäglichen heraus: „Ich sah einen Fischteich in Flammen stehn, ich sah einen Sarg tot auf der Straße liegen.“ Mehr noch durch die Aneinanderreihung von Satzfetzen, Schlagworten — „Dreizehn“ (Tumult) — „Ruiniert! Bankrott!“ — „Testament“ — „Meine Uhr“ — „Krepieren“. Der Inhalt wie die Folge der Hasenclever-Szenen ist über den Jordan des Surrealismus geschritten.

Der Mörder steigt anstelle des erschossenen Alexander ins Grab. Der nimmt sich en passant von einem Jüngling am Straßenrand den Mantel und stürzt sich ein zweites Mal in sein Leben. Kommt also in eine Gesellschaft, in der sich die Leute über den Weg laufen, ohne daß sie sich viel zu sagen hätten. Es wird gesoffen und gespielt, gehurt und gequält. Man leidet teils an Geldknappheit, teils an Geschlechtskrankheit. Sie spekulieren und schreien vergeblich nach Liebe. Allein die Gier nach Geld und Lust bringt die Menschen (in oft hastige und strapaziöse) Bewegung und miteinander in Berührung. Die Zentrifugalkraft des Ekels ist erheblich. Irgendwann öffnet Alexander den Sack, einen blaßblauen Plastikmüllsack, den ihm sein Mörder mit auf den Weg gegeben: da schaut ihn sein eigener Kopf an.

Walter Hasenclever, 1890 in Aachen in großbürgerlichem Haushalt geboren, gehört zu den wenigen Autoren, die sich vor dem Ersten Weltkrieg mit entschiedener Opposition gegen das Wilhelminische Deutschland bemerkbar machten. Er schrieb gegen den Krieg an. Seine Stücke wurden verboten, erst von 1918 an aufgeführt. Aber damals schon, so meinte er, sei in ihm die Erkenntnis gereift, daß es in Deutschland unmöglich sei, „politische Ideale zu verwirklichen“. Hasenclever versuchte es mit der Hinwendung zu Buddhismus und Okkultismus, übertrug Swedenborgs Jenseitsvisionen in freier Nachdichtung ins Deutsche; ging 1924 für vier Jahre als Korrespondent des Berliner '8-Uhr- Abendblattes‘ nach Paris — wurde Reiseschriftsteller und Komödienproduzent (angeregt durch die „heitere Grazie“ Pariser Molière-Aufführungen). Ein besserer Herr (1926), die Komödie vom Heiratsschwindler Möbius, wurde zu einem Erfolgsstück der ausgehenden Weimarer Republik. Doch der Spaß findet vor dunkel getönten Hinter- und Abgründen statt. Ehen werden im Himmel geschlossen (1928), Kulissen (1929); gegen Goebbels gerichtet: Der Froschkönig (1930); 1932 zusammen mit Kurt Tucholsky Sinnenglück und Seelenfrieden — und Flucht. Im Exil, in Südfrankreich, Jugoslawien, London, in der Toscana, in Paris, wieder in London, Paris und Südfrankreich, entstanden bis zur Internierung Münchhausen (1934, als Allegorie auf Deutschland), die Ehekomödie (1937), der Konflikt in Assyrien (als Satire auf Judenpogrom und Rassengesetze) und die autobiographisch gefärbte Romanprosa Irrtum und Leidenschaft. 1940, erneut im Lager Los Millos bei Aix-en-Provence interniert, schluckte Hasenclever eine Überdosis Veronal. Den Selbstmord hatte er in seinem Stück Antigone (1917) längst als Lösung erwogen; zuvor schon in der frühen Selbstmörder- Erzählung, welcher Nirwana — Eine Kritik des Lebens in Dramaform (1909) folgte, dann die Gedichtsammlung Städte, Nächte, Menschen und Der Jüngling. Das Bild des emphatischen, lebenshungrigen und freiheitsdurstigen Expressionisten, des exaltierten und hypersensiblen Jünglings prägte das Drama Der Sohn (1914), in dem der Konflikt mit der Vätergeneration wortmächtig zum Durchbruch drang: Klopfzeichen der kommenden Umwälzungen.

Das Menschen-Schauspiel reduzierte Sprache auf Rufe, Gesten, deformierte Gebärden; Ausdrücke gesteigerten Leidens, vorgeführte Seelenqual: der Gedanke von Schuld und Sühne rumort in der Tiefe. Und wenn der jugendliche Mörder am Schluß mit zittriger Greisenstimme „Ich liebe“ ruft, so war das als Hinweis auf die Brüchigkeit aller Liebesfähigkeit gemünzt und zugleich das Bekenntnis, es müsse doch noch möglich sein. Der Komponist Detlev Müller-Siemens, 1957 in Hamburg geboren, Schüler von György Ligeti und Olivier Messiaen, richtete sich Hasenclevers Drama zum Libretto ein (und reduzierte dabei die ohnedies bereits verknappte Sprache nochmals erheblich). Als Zwanzigjähriger trat der inzwischen mit diversen Preisen und Stipendien versehene Nachwuchskomponist in Hannover vermittels der in „neuer Einfachkeit“ gehaltenen (und in spätromantischen Harmonien schwelgenden) Oper Genoveva oder Die weiße Hirschkuh in Erscheinung — mit einem unsäglichen Libretto, das einer Julie Schrader zugeschrieben wurde (wahrscheinlich aber von einem musikschriftstellernden Hochstapler stammt). Diesmal bewies der jetzt in Basel lebende Komponist besseren literarischen Geschmack und zeigt, dem Sujet angemessen, ganz andere musikalische Mittel vor. Sein reich bestücktes Tongemälde ist in den verschiedenen Partien in unterschiedlichen Farben gehalten. Der Tonsatz präsentiert teils zerklüftete, dissonanzenreiche, schroffe Momente, läßt das Blech mit gebührender Brutalität dreinfahren; das Bar- Trio auf der Bühne gibt sich ordinär, die Streicher im Graben blühen mit den zarteren Gefühlen, edleren Regungen auf. Der Szenenfolge entsprechend (und ihren Ausdruckskurven sich anlehnend), erscheint die Musik problemkündend bzw. plaudernd, schlagkräftig oder weichgespült, bizarr und dann wieder anmutig — als Theatermusik also keineswegs uninteressant.

„Wenn ein Komponist sich entschließt, eine Oper zu komponieren“, erinnert Müller-Siemens, „so trifft er eigentlich nur eine Versuchsanordnung mit offenem Ausgang, weil vom Komponisten völlig unabhängige Kräfte, nämlich Regisseure, Sänger und Bühnenbildner, das Werk dann zu Ende führen.“ Die Sänger in Mannheim haben sich um das Müller-Siemens-Werk gebührend bemüht und reichlich Beifall geerntet; allen voran Allan Evans (als Alexander) als durch ein zweites Leben treibendes und in diesem sogar als Mörder vor Gericht gestelltes und abgeurteiltes Mordopfer.

Mit der Inszenierung war die DDR-Nachwuchsregisseurin Christine Mielitz betraut; der Bühnenbildner Peter Heilein darf als Routinier des Staatstheaters Ost gelten. An passenden und unpassenden Stellen tummelte sich eine größere Menschenmenge auf der Bühne — wohl, um in ihrer Geschäftigkeit die Einsamkeit des einen noch krasser erscheinen zu lassen. Zu den Friedhofszenen am Anfang und am Schluß paradierten sturmgejagte Wolken vor der untergehenden Sonne. Zwischenzeitlich senkt sich ein breitrandiges großes Gitter vom Bühnenhimmel und markiert ein Gräberfeld. Just so war es unlängst bei der Uraufführung von Patmos, der von Ruth Berghaus anläßlich der Münchener Biennale und in Kassel inszenierten Oper des jungen Herrn von Schweinitz, zu sehen. Die Großanzeigetafel im Hintergrund, Börsennotierungen erleuchtend, schmückte kürzlich auch Arie Zingers Frankfurter Mahagonny-Produktion. Klar doch: Das Rennen nach dem Geld schießt zwingend in ein Bild, das aus dem Westen adaptiert wurde; die Idee, den inhumanen Siegeszug des Mammon in Bildern zu zeigen, die Frau Mielitz und Herr Heilein vor ihrer Haustüre und im angestammten Milieu wahrnehmen könnten, wäre ungleich origineller und dem Stück angemessener gewesen. Es wurde ja in einen vergleichbaren gesellschaftlichen Umwälzungsprozeß gesetzt. Die insgesamt in Bewegung gesetzte Betriebsamkeit, ein Grundmuster an den Bühnen der ehemaligen DDR, ist dem existentialistischen Anflug des Hasenclever-Stückes überhaupt nicht bekömmlich, und auch die Musik von Müller-Siemens käme besser ohne dergleichen aus. Vielleicht ergibt sich ja die Chance, sie noch einmal in anderem Kontext wahrzunehmen.