Das Grundgesetz vor der Revision

Nach anfänglich strikter Ablehnung denken jetzt auch die Bonner Regierungsparteien über eine Verfassungsrevision nach/ Allerdings mit völlig anderer Absicht als die Initiatoren der Debatte/ Statt mehr Demokratie nun der Abbau von Grundrechten?/ In die Verfassungsdiskussion schleicht sich Skepsis ein  ■ Von Matthias Geis

In die Überzeugung der Grünen und Bürgerbewegung, daß es sich lohnt, für eine neue, gesamtdeutsche Verfassung zu streiten, mischen sich seit einiger Zeit skeptische Töne. Seitdem sich auch die Bonner Regierungsparteien für eine Verfassungsdebatte erwärmen, die sie noch im Zuge des Einigungsprozesses schlicht für überflüssig erklärt hatten, wächst die Irritation: Am Ende der plötzlich von allen Seiten gewünschten Grundgesetzrevision, so die Befürchtung, werde nicht die Erweiterung bürgerlicher und sozialer Rechte oder die Dezentralisierung staatlicher Macht zugunsten der Länder stehen, sondern ein reaktionär revidiertes Grundgesetz.

Joschka Fischer jedenfalls ahnt Böses: Die Hoffnung, mit der Grüne und Bürgerbewegung für eine neue Verfassung werben, könne sich schnell als Illusion erweisen. Denn realistischer als solche Hoffnungen sei ein „gefährlicher Deal der Großen“, bei dem sich Union und SPD auf restriktive Grundgesetzänderungen etwa in der Frage des Asylrechtes verständigten. Fischer wünscht sich, daß im Hinblick auf die anstehende Debatte die „machtpolitische Dimension stärker ins Blickfeld rückt“.

Die Chance der Grünen sieht er nicht in einer demokratischen Erweiterung des Grundgesetzes oder gar der Durchsetzung einer neuen Verfassung, sondern in ihrer Funktion als „Blockadefaktor“. Fischer teilt zwar die inhaltlichen Forderungen der Grünen nach einem Ausbau demokratischer Rechte, neuen Staatszielbestimmungen und einer Föderalisierung staatlicher Macht; doch angesichts der zu erwartenden Mehrheitsverhältnisse nach dem 2.Dezember kann er den positiven Gestaltungsspielraum für die Grünen in der Verfassungsdebatte kaum erkennen. Deshalb wäre der einst erste Minister einer rot-grünen Koalition schon zufrieden, wenn Grüne und Bürgerbewegung den „Legitimitätsdruck auf die SPD soweit erhöhen“ könnten, daß die befürchtete große Koalition für eine restriktive Veränderung des Grundgesetzes am Ende doch verhindert werden kann.

Auch Udo Knapp, Mitarbeiter der Grünen-Bundestagsfraktion, findet sich in der Verfassungsfrage nicht auf der Mehrheitslinie der Partei. Anders als Fischer jedoch begründet er seine Distanz nicht mit dem drohenden Agreement einer großen Koalition, sondern mit einem „ausdrücklichen Bekenntnis zum Grundgesetz“ als einer „verteidigungswürdigen Ordnung“, der in den letzten zwanzig Jahren breite Legitimation zugewachsen sei. Deshalb sei das „Gerede von einer neuen Verfassung“ bestenfalls tauglich, die Grünen gesellschaftlich zu isolieren und ins Aus zu manövrieren.

„Demokratische Errungenschaften preisgeben?“

Anders als Fischer plädiert Knapp jedoch nicht für eine bloß defensive Strategie. Vielmehr gelte es, die Zustimmung zum Grundgesetz mit der Forderung nach seiner „Weiterentwicklung“ zu verbinden.

Der Bürgerrechtler Wolfgang Ullmann, Mitbegründer des „Kuratoriums für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder“, hat sich bislang von der Skepsis in der Verfassungsfrage nicht anstecken lassen. Mit dem im Juni gegründeten Kuratorium, dem prominente Bürgerrechtler, Grüne und Sozialdemokraten angehören, plädiert Ullmann für eine neue gesamtdeutsche Verfassung „auf der Basis des Grundgesetzes“ und „unter Berücksichtigung des Verfassungsentwurfs des Runden Tisches“.

Zwar glaubt auch er nicht, daß die Regierungsparteien „mit fliegenden Fahnen die Positionen des Kuratoriums übernehmen“; angesichts restriktiver Änderungswünsche gelte es jedoch, den demokratischen Gehalt des Grundgesetzes zu verteidigen und zugleich die anstehende Alternative klar zu formulieren: „Wollen wir unsere demokratischen Errungenschaften weiterentwickeln oder einfach preisgeben?“ Ullmanns Plädoyer für eine klare Verankerung direkter, demokratischer Einflußmöglichkeiten in der neuen Verfassung bezieht sich sowohl auf die Erfahrung des Umbruchs in der DDR wie auch auf seine anschließende Überformung durch die westdeutsche Parteienlandschaft.

Man erinnert sich noch: Im Frühjahr 1990 sah es für einen Moment lang so aus, als ließe sich auch das politische System der Bundesrepublik nicht mehr hermetisch von der Entwicklung in der DDR abschirmen. Denkbar — und im Nachhall des Umbruchs realistisch — schien die Herstellung der deutschen Einheit als souveräner Akt zweier Staaten, bei dem die DDR nicht nur den Ballast einer maroden Wirtschaft und einer SED-durchsetzten Verwaltung, sondern auch die Erfahrung der praktizierten, direkten Demokratie der friedlichen Revolution hätte einbringen können.

Den verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkt für diese — nicht nur von den Bürgerbewegungen artikulierte — Hoffnung bot die Schlußbestimmung des Grundgesetzes, Artikel 146, die im Falle der Einheit eine neue, gesamtdeutsche Verfassung verspricht. Dem Beitritt der DDR zum Grundgesetz nach Artikel 23, der damals eher zaghaft in die Debatte gebracht wurde, haftete noch etwas Putschistisches an. Die Propagandisten der 23er-Variante schienen nicht nur den provisorischen Charakter des Grundgesetzes und seine Schlußbestimmung negieren zu wollen; sie hielten ganz offensichtlich auch die spezifischen Erfahrungen der DDR-Bürger nicht für würdig, in eine gemeinsame neue Verfassung Eingang zu finden.

Mit dem Ergebnis der März-Wahlen schwand die Chance der Verabschiedung einer neuen DDR-Verfassung. Dem Ziel, eine gesamtdeutsche Verfassungsdiskussion zu verhindern, war es geschuldet, daß die Regierungsparteien am 26.April in der Volkskammer den Verfassungsentwurf des Runden Tisches abservierten. Eine demokratisch legitimierte, in vielen Aspekten zeitgemäßere Verfassung der DDR hätte deren umstandslosen Beitritt zumindest erschwert. Das Grundgesetz und damit die politische Ordnung der alten Bundesrepublik hätten im Zuge des Einigungsprozesses selbst zur Disposition gestanden.

Der Streit, ob die Schlußbestimmung des Grundgesetzes im Falle der deutschen Vereinigung eine neue Verfassung zwingend vorschreibe, wurde mit dem Beitritt faktisch entschieden. Das Grundgesetz gilt — so heißt es jetzt im erweiterten Artikel 146 — „nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk“.

Zweifellos sind die ursprünglichen Intentionen der Befürworter einer neuen gesamtdeutschen Verfassung mit dem Vollzug der Einheit nach Artikel 23 nicht hinfällig geworden. Das Argument, die Vereinigung zweier derart unterschiedlicher Gesellschaften müsse ihren Ausdruck auch in einer gemeinsamen Verfassung finden, ist nach wie vor plausibel. Doch der Vollzug der Einheit liefert eher den Skeptikern die Argumente.

Die Verhinderung einer parlamentarischen Verfassungsdebatte vor dem Beitritt galt nicht nur dem reibungslosen Vollzug, sondern stand immer auch im Zeichen der Abriegelung der bundesrepublikanischen Ordnung. Vor diesem Hintergrund dürfte der Einigungsvertrag, Artikel 5, der dem gesamtdeutschen Gesetzgeber „empfiehlt“, sich innerhalb der nächsten beiden Jahre doch noch mit notwendigen Veränderungen am Grundgesetz zu befassen, kaum Anlaß für allzu hochfliegende Erwartungen bieten.

Bloß keine Experimente in Richtung Utopia

„Keine Experimente in Richtung Land Utopia“ lautet denn auch die Devise, mit der Manfred Langner, Rechtspolitiker und Stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, in die bevorstehende Auseinandersetzung geht. Langners präzise und selbstbewußt vorgetragenen Änderungswünsche dürften all die bestätigen, die mittlerweile warnen, die Initiative für eine neue Verfassung werde am Ende nur die Verankerung einiger unverbindlicher Staatsziele befördern, während die Union ihre alten Forderungen durchsetzt.

In erster Linie geht es ihr um die Einschränkung des grundgesetzlich garantierten Asylrechts. Langner plädiert für einen Gesetzesvorbehalt und zitiert seinen Fraktionskollegen Paul Laufs: Der favorisiert eine Ergänzung des Artikels 16, wonach Flüchtlingen aus Ländern, in denen — nach welchen Kriterien auch immer — keine politische Verfolgung besteht, pauschal das Asylrecht abgesprochen wird. Langner glaubt, daß die Verhandlungsposition in dieser Frage, allein schon durch „die Fakten und den öffentlichen Druck“ deutlich gestärkt wird.

Nicht nur Lafontaines populistischer Asylrechtsvorstoß lassen Zweifel an der Standfestigkeit der SPD aufkommen. Das klare Nein zu einer Aufweichung des Artikel 16, das man noch vor wenigen Wochen bei Mitarbeitern der SPD-Fraktion zu hören bekam, ist mittlerweile vorsichtigen Relativierungen gewichen. Bei einem Verhandlungspaket, in dem auch die Union Konzessionsbereitschaft zeige, erscheint das Placet der SPD für die Aushöhlung des grundgesetzlichen Asylrechts nicht mehr ausgeschlossen.

Zwischen Union und SPD bereits unumstritten ist die Beteiligung der Bundeswehr im Rahmen der UN- Friedenstruppen auch außerhalb des Nato-Gebietes. Während Lafontaine jedoch die Teilnahme deutscher Wehrpflichtiger an bewaffneten Friedensaktion nach Artikel 42 der UN-Charta kategorisch abgelehnt hat, will die Union auch diese Möglichkeit im Grundgesetz verankert wissen.

Irritierend sind weniger die lange bekannten Forderungen der Union, sondern die ausweichende Haltung der Sozialdemokratie. Denn obwohl klar ist, daß sich der Charakter der anstehenden Revision — Ausbau und Weiterentwicklung oder Einschränkung grundgesetzlich garantierter Rechte — wegen der notwendigen Zweidrittelmehrheit am Votum der SPD entscheiden wird, klammert sie in ihren offiziellen Verlautbarungen die brisanten Punkte bislang aus.

Das schmälert die Überzeugungskraft des bislang bekannten Forderungskatalogs, der deutliche Parallelen mit den Vorstellungen der Bürgerbewegung und Grünen aufweist. Ganz oben steht die Aufnahme eines Staatsziels Umweltschutz sowie das Recht auf Arbeit und menschenwürdiges Wohnen. Ersteres gilt mittlerweile als allgemein konsensfähig, die Erweiterung der sozialen Rechte bleibt umstritten. Als Kompromiß, freilich gegen den Widerstand der FDP, bietet sich die moderatere Variante sozialer Staatsziele an. Kritiker verweisen auf die Unverbindlichkeit der individuell nicht einklagbaren Staatsziele. Die SPD will aus ihnen die Verpflichtung des Staates zur Arbeitsförderung beziehungsweise Wohnraumvorsorge herleiten.

Ähnlich wie die Grünen will die SPD über das grundgesetzliche Diskriminierungsverbot hinaus die „Förderung der Gleichstellung und die Chancengleichheit der Frau“ positiv im Grundgesetz verankern. Die CDU fordert ein Staatsziel „Schutz des ungeborenen Kindes“, während ein feministischer Verfassungskongreß in Frankfurt das Recht auf selbstbestimmte Schwangerschaft ins Grundgesetz schreiben will.

Nach dem ablehnenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum kommunalen Ausländerwahlrecht sehen Grüne, Sozialdemokraten und Teile der FDP Handlungsbedarf. Daß das Grundgesetz nicht Bürgerinnen und Bürgern, sondern dem „Volk“ das Recht auf Wahlen zugesteht, hält Wolfgang Ullmann im Zusammenhang mit der völkischen Definition „Deutscher“ in Artikel 116 des Grundgesetzes schlicht für anachronistisch. Die SPD sieht das weniger grundsätzlich und plädiert eher vage für die „Stärkung der Rechte der ausländischen Arbeitnehmer“.

Kämpferisch und unklar zugleich bleibt auch die SPD-Forderung nach mehr direkter Demokratie. Die Parole „Wir sind das Volk“, mit denen die DDR-BürgerInnen im Herbst 1989 auf die Straße gezogen seien, dürfe „keine Formel bleiben“, heißt es in einer Erklärung des Parteivorstands von Anfang November. Konkretisiert wird das dann mit der Allerweltsformel vom „Ausbau der Beteiligungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger“.

Mit der vagen Formulierung wird verkleistert, daß es insbesondere in der SPD-Bundestagsfraktion massive Vorbehalte gegen die Verankerung von Volksbegehren und Volksentscheid im Grundgesetz gibt. Das gilt auch für die FDP, die lieber für eine nicht näher präzisierte „Stärkung des Abgeordneten in der repräsentativen Demokratie“ streiten will.

Plebiszite bringen nicht automatisch Liberalität

Für Grüne und Bürgerbewegung hingegen gehört die Institutionalisierung „plebiszitärer Elemente“ zu den zentralen Forderungen an eine Weiterentwicklung des Grundgesetzes. Das Verhältnis von „Wahlen und Abstimmungen“ in Artikel 20 (2), so Wolfgang Ullmann, sei im Verfassungstext unklar geblieben, faktisch aber zugunsten der Wahlen und damit der repräsentativen Demokratie ausgelegt worden. Ullmanns Forderung: „Die repräsentative Demokratie muß auf die direkte Demokratie begründet werden.“ Der Staatsrechtler Ulrich K. Preuss hat in der Debatte um die Runde- Tisch-Verfassung einschränkend zu bedenken gegeben, daß die Verankerung direkter Demokratie nicht das Primat, sondern das Monopol des Parlamentes in Frage stellt.

Ein Mehr an Demokratie und Liberalität ist freilich mit der Verankerung von Volksentscheiden nicht zwangsläufig implantiert. Gerade in populistisch aufgeheizten Kontroversen wie der Asylrechtsdebatte könnte der Volksentscheid auch zur Einschränkung des Grundgesetzes beitragen.

Streit ums Plebiszit gibt es nicht nur im Zusammenhang mit den inhaltlichen Änderungen des Grundgesetzes, sondern auch bei der Frage seiner Sanktionierung als gesamtdeutsche Verfassung. Die Union sträubt sich bislang gegen eine Volksabstimmung über das Grundgesetz, obwohl dies als Möglichkeit auch im Einigungsvertrag erwähnt ist. Bislang hat sich in dieser Frage außer Wolfgang Schäuble noch kein prominenter CDUler mit konzilianten Formulierungen an die Öffentlichkeit gewagt. Manfred Langner, der das Grundgesetz bereits mit den Volkskammerwahlen am 18.März gesamtdeutsch sanktioniert sieht, hält eine gesonderte Abstimmung für eine reine „Placeboveranstaltung“.

Dessen ungeachtet haben sich mittlerweile auch die Liberalen für eine Abstimmung parallel zu den Bundestagswahlen 94 ausgesprochen. Hier aber endet bereits der Konsens mit der Opposition in der Verfahrensfrage. Denn für SPD, Grüne und Bürgerbewegung ist das Referendum nur der Schlußpunkt einer Verfassungsrevision, die transparent, unter breiter gesellschaftlicher Beteiligung und nicht in den „zuständigen“ Parlamentsgremien vollzogen werden soll.

Sie plädieren für die Etablierung eines Verfassungsrates aus Abgeordneten des Bundes, der Länder, RechtsexpertInnen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Der Rat soll einen Entwurf erarbeiten, der entweder dem Bundestag und Bundesrat oder direkt dem Volk zur Abstimmung gestellt werden soll. Die Grünen wollen die Bürger und Bürgerinnen auch über Varianten entscheiden lassen.

Schon die naheliegende Assoziation eines Verfassungsrates mit dem Parlamentarischen Rat 1948 ist für Union und Liberale ein klares Signal auf die von der Opposition intendierte weitreichende Verfassungsrevision. Das allein reicht zur Ablehnung. Die Regierungsparteien können sich derzeit bestenfalls eine Enquetekommission vorstellen. Geht es nach ihnen, soll das Änderungspaket in den zuständigen Ausschüssen von Bundestag und Bundesrat ausgehandelt und dann mit Zweidrittelmehrheit abgesegnet werden.

Richtung und Reichweite der bevorstehenden Grundgesetzrevision werden auch durch das gewählte Verfahren vorentschieden. Gelingt es der Union, die eigentlichen Verhandlungen hinter verschlossenen Türen zu halten, stehen die Chancen für eine breite gesellschaftliche Verfassungsdebatte wie für die Verhinderung restriktiver Grundgesetzänderungen eher schlecht.

Ohnehin ist — über die engagierten Insider hinaus — das gesellschaftliche Subjekt dieser Debatte derzeit nicht in Sicht. Auch die Erfahrungen mit dem Verfassungsentwurf des Runden Tisches stimmen da eher nachdenklich. Die BürgerInnen, die sich im Herbst als Souverän konstituiert hatten, nahmen im Frühjahr die Beerdigung „ihrer“ Verfassung durch die Volkskammer — wenn überhaupt — weitgehend desinteressiert zur Kenntnis.