: Klärung im Grundsätzlichen
■ Gorbatschow präsentierte seinen Entwurf eines neuen Unionsvertrages KOMMENTARE
Das Drama „Aufstieg und Fall des sowjetischen Imperiums“ treibt seiner Peripetie zu. Der Souveränitätserklärung aller Republiken folgt jetzt der Entwurf der Zentrale für die Erneuerung der Union. Während die amerikanischen Gründerväter bei ihren Diskussionen der „Federalist Papers“ die Gewichte zwischen den Befugnissen des Bundes und der Einzelstaaten noch in aller Ruhe austarieren konnten, muß die sowjetische Verfassungsdebatte unter extremem Zeitdruck geführt werden. Wenn überhaupt, kann der Problemberg, der sich beim Übergang zu einer neuen Produktionsweise auftürmt, nur von demokratisch legitimierten Organen abgetragen werden — und das sind in erster Linie die Parlamente der nunmehr selbständigen Republiken. Der Entwurf der Zentrale trägt dieser offenkundigen Notwendigkeit Rechnung, indem er einen Bund selbständiger Sowjetrepubliken vorschlägt — wobei „Sowjets“ nicht mehr als konstitutionelles Gegenmodell zum Parlamentarismus zu verstehen sind, sondern allenfalls noch als historische Reminiszenz.
Trotz dieser Klärung im Grundsatz birgt der Entwurf Zweideutigkeiten, die nicht allein mit den bevorstehenden, komplizierten Verhandlungen und dem damit verbundenen Zwang zu Kompromißformeln erklärt werden können. In der entscheidenden Frage der Kompetenzaufteilung schlägt der Entwurf vor, daß die Union und die Einzelrepubliken gemeinsam die ökonomische Entwicklungsstrategie bestimmen. Wo eine elaborierte Aufteilung der Entscheidungsbefugnisse unter dem vorausgesetzten Primat der Einzelrepubliken notwendig wäre, sorgt diese schwammige Formulierung nur für die Fortsetzung des jetzigen, unhaltbaren Zustands. Auch der Vorschlag der Zentrale, für Verbrechensbekämpfung und Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung die alleinige Kompetenz des Bundes zu reklamieren, ist ein Freibrief für die weitere Tätigkeit des KGB und die Truppen des Innenministeriums und in dieser Form für die Republiken unannehmbar.
Gorbatschow konnte sich nicht dazu durchringen, klipp und klar eine Neugründung der Union zu befürworten. Wäre dies der Fall gewesen, so hätte man den baltischen Staaten und Georgien, die alle Opfer der sowjetischen Expansion wurden und jetzt die vollständige Unabhängigkeit einfordern, ein Angebot zum Eintritt oder zur Assoziierung machen können. Da aber die neue Union offensichtlich mit der alten rechtsidentisch sein soll, werden sich die quälenden Auseinandersetzungen über das Ob und Wie der Unabhängigkeit ehemaliger Sowjetrepubliken fortsetzen und den ganzen Prozeßder Transformation mit einer unlösbaren Problematik belasten. Christian Semler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen