Gegen Chinas führende Dissidenten stehen erste Prozesse bevor

■ Prozesse gegen den Menschenrechtler Ren Wanding und den Herausgeber einer reformorientierten Zeitung, Wang Juntao, angekündigt/ Weitere warten auf Anklage

Peking (dpa) — Eineinhalb Jahre nach der blutigen Niederwerfung der Demokratiebewegung gibt es in der chinesischen Hauptstadt Peking deutliche Hinweise, daß die ersten Prozesse gegen damals aktive Regimekritiker bevorstehen. Während amtlich bisher striktes Stillschweigen über das Schicksal der im Gefängnis sitzenden Oppositionellen und Studentenführer bewahrt wurde, teilte die Frau eines führenden Dissidenten jetzt mit, sie habe eine knappe Mitteilung des Pekinger Amtes für öffentliche Sicherheit erhalten. Darin heißt es, gegen ihren Mann, den 32jährigen Wang Juntao, werde unter der schweren Anschuldigung, er habe „konterrevolutionäre“ Verbrechen begangen, ein Verfahren eingeleitet.

Es war zunächst unklar, ob gegen bekanntere Dissidenten und möglicherweise Studentenführer nichtöffentliche Verfahren eröffnet werden oder ob es auch Schauprozesse mit ausgewähltem Publikum geben wird. Wie die 27jährige Frau von Wang Juntao, Hou Xiaotian, ausländischen Journalisten sagte, wird ihrem Mann „die Verbreitung konterrevolutionärer Propaganda“ und Aufwiegelung zum Sturz der kommunistischen Regierung vorgeworfen. Diese Anklage läßt nach der Erfahrung mit ähnlichen Fällen eine hohe Freiheitsstrafe erwarten. Für die Verteidigung von Regimekritikern haben die Behörden — die Auskünfte zum Schicksal der politischen Gefangenen stets verweigern oder Unwissenheit vorgeben — offenbar eigene Anwälte benannt. Wie informierte Quellen berichteten, soll auch gegen den verhafteten Menschenrechtler Ren Wanding ein Prozeß angekündigt worden sein.

Die Menschenrechtsorganisation amnesty international hatte bereits vor einigen Tagen erklärt, sie sei besorgt, daß „verschiedenen Anführern der prodemokratischen Bewegung“ in Kürze geheime Gerichtsverhandlungen mit langen Gefängnisstrafen drohten. Die Anführer und weitere Personen, die auf ihren Prozeß warteten, würden „seit über einem Jahr ohne Anklage oder Verfahren oft unter harten Bedingungen gefangengehalten“. Gerichtsverfahren seien in China oft „eine bloße Formalität“, bei der die Urteile schon zu Beginn der Verhandlungen feststünden.

Wang Juntao wurde als einer der „Hauptdrahtzieher“ der Protestbewegung vom Vorjahr per landesweiten Fahndungsbefehl gesucht und im Oktober 1989 verhaftet, nachdem er nach Monaten im Untergrund und auf der Flucht in Südchina von einem Bekannten verraten worden war. Auch in chinesischen Dissidentenkreisen wurde Wangs Rolle als Schlüsselfigur und „unbekannter Held“ hinter den Kulissen hervorgehoben. Wang, der im berüchtigten Qincheng-Gefängnis nördlich von Peking einsitzt, war bereits früher in der prodemokratischen Bewegung aktiv. Zuletzt war er Leiter eines privaten sozialwissenschaftlichen Instituts und Mitherausgeber der reformorientierten wirtschaftlichen Wochenzeitung 'Jingji Zhoubao‘, die nach dem Massaker geschlossen wurde.

Während nach amtlichen Angaben noch 355 Teilnehmer und Anstifter der Unruhen und der „Konterrevolution“ in Haft sitzen, gehen westliche Menschenrechtsorganisationen von einer weit höheren Anzahl aus. Amnesty international legte eine aktualisierte Liste mit den Namen von 700 Personen vor, die nach dem Massaker inhaftiert wurden. In den Wochen nach dem Pekinger Massaker vom Juni 1989 war in Peking und anderen Städten rasch eine Reihe von Unruhestiftern und „Halunken“ —in der Regel unbekannte Arbeiter— wegen tätlicher Angriffe auf Soldaten und Polizisten sowie Vandalismus hingerichtet worden.

Weitere führende Regimekritiker — in der offiziellen Propaganda auch „schwarze Hände“ genannt — wie der Freund Wang Juntaos, der 37jährige Chen Ziming, der 35jährige Literaturdozent Liu Xiaobo, der am Vorabend des Massakers noch einen Hungerstreik auf dem Tiananmen- Platz gestartet hatte, der Intellektuelle Bao Zunxin und der Führer der verbotenen unabhängigen Arbeitergewerkschaft, der 26jährige Han Dongfang, warten im Gefängnis ebenso auf formelle Anklagen und Verfahren wie verhaftete Pekinger Studentenführer mit Wang Dan (24) an der Spitze.

Derweil wollen Chinas orthodoxe Ideologen der Glaubens- und Legitimationskrise des Kommunismus auch weiterhin mit einer ideologischen Bekämpfung der kapitalistischen Systeme und einer verstärkten „sozialistischen Erziehung“ begegnen. In einem Leitartikel der parteiamtlichen Pekinger 'Volkszeitung‘ hieß es am Freitag, daß insbesondere Funktionäre der höheren Ebene sich dem Studium des „wissenschaftlichen Sozialismus“ widmen sollten. „Alle müssen erkennen, daß die Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus eine historische Notwendigkeit ist.“

Werke von Marx, Engels und Lenin sowie der „alten proletarischen Revolutionäre“ Mao Tse-tung und Deng Xiaoping sollten studiert werden. „Wir müssen daran glauben, daß die Wahrheit des Marxismus den Menschen überzeugen kann, und wir müssen auch daran glauben, daß die Kader und die Massen die Wahrheit akzeptieren können.“ Die westlichen Ideen der „bürgerlichen Liberalisierung“ müßten noch über einen „langen Zeitraum“ bekämpft werden. Edgar Bauer