Premiere im Osten: „Touch the Helmut“

Wahlkämpfer Kohl wagt sich zum ersten Mal nach Ost-Berlin/ Heimspiel vor 3.000 ausgewählten CDU-Fans/ Der Kanzler der Deutschen übt sich in landesväterlichem Großmut/ Eher nebenbei teilt er ein paar Seitenhiebe gegen die Sozis aus  ■ Von Matthias Geis

Berlin (taz) — Ein schräger Bandleader quatscht gegen die abwartend- trübe Stimmung in der Ostberliner Werner-Seelenbinder-Halle an und macht alles nur noch schlimmer: „Sie merken schon, ganz locker, ganz zwanglos geht es hier im Innern der Halle zu.“ — Draußen wird ordentlich gefilzt, CDU-Eintrittskarte und Leibesvisitation sind Pflicht, Störer und durchgeknallte Killer unerwünscht. „Gehen Sie aus sich heraus“, mit Händchen heben und Mitsingen versucht der Entertainer zwei Stunden lang die 3.000 anwesenden CDU-Fans auf den bevorstehenden „Kanzler der Deutschen“ einzustimmen. — Nicht nötig. Als Kohl mit Verspätung am Freitag abend in die Halle zieht, wo früher nur SED-Parteitage und DDR-Sportler zu Höchstleistungen aufliefen, klappt der Einsatz. „Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft“, frenetischer Jubel, Helmut, Helmut, das übliche Gerangel zwischen Bodyguards, Fotographen und denjenigen, die das einsame Transparent „Touch the Helmut“ allzu wörtlich nehmen. Der Kanzler kriegt sein Heimspiel, auch in Ost-Berlin, das er bei seinen bisherigen Wahlkampftourneen gemieden hat. Nur die Tatsache, daß die CDU auch für Kohl die Halle nicht vollbekommen hat, erinnert daran, daß Berlin noch immer keine CDU- Hochburg ist.

Das wird wohl so bleiben, das ahnt auch der Kanzler. Ein bißchen unbehaglich wirkt der gerade vom europäischen Gipfel aus Paris Zurückgekehrte. Flankiert von drittklassigen Provinzpolitikern — Buwitt, Lummer, Bergmann-Pohl — muß er erst einmal die rhetorische Nullnummer des Lokalmatadors Diepgen über sich ergehen lassen. Dessen, im Redemanuskript noch enthaltene Hommage an Kohl — „Viel Feind — viel Ehr!“ — bleibt zwar unausgesprochen; doch Anbiederei im Stil antiquierter Waschmittelwerbung bietet Diepgen en gros: „Keiner kann es besser, keiner macht es besser, keiner ist besser.“ Das weiß Kohl auch alleine. Mechanisch gelangweilt klatscht er an den vorgesehenen Stellen seinen Beifall. Man sehnt sich nach dem miesen Animateur aus dem Vorprogramm. Doch das Publikum, die Mehrzahl Ostberliner Arbeitermillieu und ein paar überangepaßte Teenies in Nadelstreifen und Krawatte, ist nicht wählerisch: „Nie wieder Rot-Grün“, die Verlängerung der Berliner Kohlesubvention „bis zum Ende der Heizperiode“ oder die „Abschiebung ausländischer Krimineller“ als demagogische Einlage — alles willkommener Anlaß für Beifallsstürme.

Da fällt es Kohl dann nicht schwer zu brillieren. Nach der wahlkämpferischen Einstiegslüge für den ungeliebten Unionsstatthalter — „Jede Stimme für Diepgen ist eine Stimme für die Zukunft“ — präsentiert sich der Kanzler in erster Linie als großmütiger Landesvater, der über die platten Notwendigkeiten des Wahlkampfs doch eigentlich längst hinausgewachsen ist. — Na ja, angesichts der bevorstehenden, „historischen Wahl“ lassen sich ein paar Anmerkungen zu den Sozialdemokraten nicht vermeiden: Daß die, statt mit der Union einen „Pakt für die Einheit“ zu schließen, jetzt wieder das „sozialistische Neidvehikel durchs Land treiben“, das verletzt den Kanzler. Da kommt ihm auch wieder die böse Erinnerung an den 10. November, einen Tag nach dem Fall der Mauer in den Sinn. Nicht das „Geschrei vor dem Rathaus Schöneberg“ — das hat die Geschichte ja längst marginalisiert. Nein, der Satz von Walter Momper — „es geht nicht um Wiedervereinigung, es geht um Wiedersehen“ — der hat den Kanzler persönlich gekränkt: „Ich habe diesen Satz nie vergessen“, vertraut Kohl seinen Zuhörern an. Fast ist er ein bißchen traurig über das Maß historischer Ignoranz. Daß da einer „überhaupt nicht begriffen hat...“, das will der Kanzler nicht begreifen.

Ausdrücklich dankt er noch einmal „unseren Landsleuten in der DDR“ und all denen, die sich nie dem „Zeitgeist der zwei Staaten“ angepaßt haben, denen die „uns die Treue gehalten haben, während der Durststrecke der deutschen Politik“. Der Kanzler „braucht keine Rede umzuschreiben“, weil er Honecker prophezeit hat: „Die Mauer wird fallen, weil es ein Gebot der Geschichte ist.“ Die Halle tobt, Kohl setzt nach: „Wir haben Wort gehalten.“

Deshalb kann Kohl jetzt Zukunft gestalten, großmütig, ohne nationale Überheblichkeit, im Überschwang der glücklichen Stunde. Es scheint, als wolle er keinem seiner Konkurrenten ein attraktives Thema lassen: Lafontaines deutsch-französische Freundschaft als Vorbild der deutsch-polnischen Aussöhnung ist jetzt Kanzlerprogramm. Auch Genschers beharrliche Lektion, über die nationale Einheit Europa nicht zu vergessen, hat der Kanzler längst gelernt: „Es gibt kein Zurück zum engen Denken des Nationalstaates“, beteuert Kohl, der gleich darauf auch den Schwerfälligeren auf die Sprünge hilft: Denn von der Einheit Europas „haben wir den größten Nutzen“. Gerade deshalb fällt es dem Kanzler leicht, sein Zukunftsprogramm zu entwerfen: „Werke des Friedens tun, das ist das Ziel unserer Politik.“ Noch vor den „Sorgen des Alltags“ rangiert in Kohls Rede die Solidarität mit der Sowjetunion Gorbatschows: Gut sei es jetzt, „viel Geld auszugeben für Werke des Friedens bei unseren Nachbarn“. Auch hierfür erntet Kohl in der Werner- Seelenbinder-Halle Beifall.

Solch großherziges Versprechen will Kohl dann auch nicht durch Verzagtheiten im eigenen Land eingeschränkt wissen. „Nicht den geringsten Grund“ sieht der Kanzler, am erfolgreichen Wiederaufbau zu zweifeln. Seine Prognose von den „blühenden Landschaften“ darf da nicht fehlen und wird kühn präzisiert: „Fünf Jahre“ harter Arbeit wird es brauchen. Helfen, so der Kanzler, könne dabei jedem Alt- Bundesbürger die Frage „Was wäre aus mir geworden, wenn ich in Leipzig geboren wäre?“ — auf der Pressebank kursiert die freche Vermutung: „SED-Kreissekretär“.