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: Aktenzeichen XY gelöst

■ "Die Beimers" aus 130 Stunden "Lindenstraße", Sa., ARD

Das besondere an einer sozialkritischen Seifenoper ist, daß in ihr (im Gegensatz zum realen Leben?) zum Beispiel „eine Schwangerschaft wirklich neun Monate“ dauert. So Lindenstraße-Produzent und -Autor Hans W. Geißendörfer, der zusammen mit den Autoren Maria Elisabeth Straub und Martina Borger sowie den Regisseuren Karin Hercher und George Moorse gegen die Ausstrahlung des Specials Die Beimers heftig protestierte. In einem Brief an den WDR hieß es, der schnelle Durchlauf „verstümmelt und entstellt die Absicht der Macher, das alltägliche Leben in einer Straße darzustellen“. Die Serie sei pervertiert als „süßliche Aneinanderreihung von Liebesschmerz Freud und Leid“.

Die Serie, die noch bis mindestens Ende 1992 läuft, findet durchschnittlich zehn Millionen Zuschauer, bewegt Gemüter (Die Beimers sahen am Samstag „nur“ schlappe fünf Millionen, der Rest war bei Peter Alexander im ZDF). Ein hehrer Traum, der Tagtraum eines ehrbaren Altlinken, mit einer Mischung aus Überresten politischer Agitation und leicht verdaubarer TV-Kost, Zuschauermassen zumindest vor dem Verblöden zu bewahren. Die Lindenstraße ist ein deutscher Blockbuster geworden. Es gibt Lindenstraßen-Maniacs; in Kantinen der gehobenen Mittelschicht erfüllt die rituell gewordene Unterhaltung über die letzte Folge eine soziale Funktion.

Das Konzept ist einfach. Man schaut dem Volk aufs Maul und in die Wohnung. In der Lindenstraße gibt es etwas zum Wieder-erkennen. Hinlänglich bekannte und akzeptierte soziale Muster werden noch einmal durchgespielt, aktuelle politische Fragen aufgegriffen; die Lindenstraße hat Ratgeberfunktion, ist eine begleitende Simulation des Alltags.

Wiedererkennen ist jedoch etwas gänzlich anderes als Erkennen. Der Wiedererkennungswert bewegt sich in einem eng umrissenen Feld der Akzeptanz. Wie schnell die virtuellen Familienmitglieder auf der Mattscheibe vom Fetisch zum Skandalon wechseln, zeigte etwa die lapidare Vergewaltigungsszene in der Schwarzwaldklinik.

Die Lindenstraße ist da immer auf Kurs. Brenzlige Situationen tatsächlich, ausweglose Konflikte gibt es nicht. Angestachelt vom Militär- Opa schießt Klausi zum Beispiel dem Tennislehrer beide (!) Augen aus und führt den Blinden anschließend einige Folgen spazieren. Zermatschte Augen gibt es im Fernsehen nicht (no splatting Image), und als der psychische Druck für den Zuschauer, der sich mit dem Bengel gefälligst identifizieren soll, zu groß wird, exekutiert man den lästigen Blinden kurzerhand per Autounfall (sauberer Stunt übrigens). Marions erster Freund ist ein geiler Grieche, der ihr in Wahrheit nur an die Wäsche will. Auch Anna Ziegler nennt keine Weichteile; statt dessen sagt sie zu Hans: „Ich finde es gut mit dir in der Nacht.“

Auf etliche Folgen verteilt, fällt das nicht weiter auf. Was die neunzig Minuten Zusammenfassung aus fünf Jahren Lindenstraße sinnfälligerweise zutage brachten, war keine „Pervertierung“, sondern im Gegenteil eine Entmystifizierung des ansonsten endlos zerdehnten Fernsehmärchens. Die Aufregung um den Lindenstraße-Clip hatte also Methode — unfreiwilligerweise. Was die „süßlichen Aneinanderreihung von Liebesschmerz, Freud und Leid“ anbelangt, so scheint es fast, als stelle Geißendörfer mit seiner Typisierung dem Kritiker das Vokabular zu Verfügung. Er muß es ja wissen, oder? Manfred Riepe