ABER ABER VONMATHIASBRÖCKERS

Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, hat den New Yorker Neurologen Oliver Sacks als Autor international bekannt gemacht. Statt klinischen Fallgeschichten erzählte er Short stories aus dem Alltag der Verrücktheit, der Welt der Macken, Ticks und Psychosen. Und, vor allem, von der Energie und Kreativität, die hinter dem Kranken und Pathologischen lauert. „Verrücktheit als Chance“ hätten Sacks' Bücher (in Anlehnung an einen anderen Bestseller) heißen können, wären nicht Titel wie Der Tag, an dem mein Bein fortging so viel besser. Auch in seinem letzten, im Herbst auf deutsch erschienen Buch (Stumme Stimmen), einer Reise in die Welt der Gehörlosen, geht es um die Produktivität eines „Defekts“, um die schöpferische Art, mit der der Ausfall eines Sinns kompensiert wird. Sacks würdigt die hohe intellektuelle Leistung der Gebärdensprache, deren Erlernen seinen Untersuchungen zufolge ebenso abläuft wie der Spracherwerb hörender Kinder. Er bestätigt damit die Theorie Chomskys, nach der es eine angeborene Struktur ist, die „generative Grammatik“, welche jedem Kleinkind ermöglicht, wozu noch die übernächste Generation hyperschneller Computer nicht in der Lage sein wird: innerhalb so kurzer Zeit eine Sprache mit einer halben Million Regeln zu lernen.

Aber es geht hier nicht um die platonische Diskussion „Eingeborene Software — ja oder nein“, nicht um das Buch Stumme Stimmen und auch nicht um Künstliche Intelligenz (letztere nehme ich erst ernst, wenn Computer Witze produzieren können) —, es geht um Oliver Sacks' Lieblingsvokabel: „Meine Lieblingsvokabel“, bekundete er jüngst in einem Interview, „heißt ,aber‘. Aber, aber, aber. Das Wort ,aber‘ war das erste Wort, als ich die Gehörlosensprache erlernte. Mein ganzes Nervensystem produziert ständig dieses kleine Wort, das den Widerspruch ankündigt.“ Eine ziemlich außergewöhnliche Produktion — denn allgemein scheint das kleine Wort ziemlich auf den Hund gekommen. Gedacht und gemacht wird „Entweder/Oder“, und zwar „Ohne wenn und aber“ — Denken im Widerspruch, das permanente Aber, steht als „Zögern und Zaudern“ in öffentlichem Verruf. Und das kleine Wort, das Opposition ankündigt, ist zum Relativierungsanhängsel verkümmert — wer nicht Nein sagen kann (etwa auf die Frage: Sind Sie für Abrüstung?) sagt „Ja, aber“ (... die Raketen müssen erst noch modernisiert werden).

Die ausschließende Logik, das hierarchische Entweder/Oder, das digitale Ein/Aus — sie mögen das Aber nicht; mag es auch noch so klein sein, es ist nicht nur ein Störenfried, sondern der Hauptfeind, der eliminiert werden muß.

Man muß schon viele hundert Jahre zurückgehen, um das Wörtchen in seiner ursprünglichen Qualität bei der Arbeit zu sehen — etwa in die Ratssitzungen der Indiander: Bei jeder Entscheidung, die die Ältesten trafen, mußten ihre Folgen für die sieben kommenden Generationen mitbedacht und einbezogen werden. Die Schwierigkeiten der Diskussion kann man sich unschwer vorstellen — und doch war diese Institutionalisierung des Aber in höchster Weise modern: als Durchspielen (Simulation) sämtlicher Wahrscheinlichkeiten, als aufgeklärter Zweifel an sämtlichem Wissen, als praktisch angewandte Relativitätstheorie. Zyniker mögen einwenden, daß sich diese Methode der Entscheidungsfindung als nicht sonderlich erfolgreich erwiesen hat — während die dummen Roten noch überlegten, ob sie flüchten oder sich wehren sollten, hatten die cleveren Weißen sie längst überrollt. Und doch scheint es, als ob ohne eine Re-Institutionalisierung des Aber gar nichts mehr geht: Die Dynamik des Ex und Hopp, des entscheidungsfrohen Machens, des jedes Aber niederwalzenden „Handlungsbedarfs“, sie haben die Welt in einem Maß zerstört, daß an vielen Ecken der point of no return schon überschritten ist.

Wie können wir anfangen, den permanenten Widerspruch wieder zu etablieren? Als aktuelles Beispiel sei zitiert, was ein Großmeister des Aber, Wolfgang Neuss, anläßlich der Häuserräumungen im Charlottenburger „Nassen Dreieck“ vor zehn Jahren in dieser Zeitung schrieb: „Könnt ihr Euch noch an das Wort ,Kulturzentrum Berlin‘ erinnern? Das Kulturzentrum, das wir jetzt haben, haben wir doch nicht allein Axel Cäsar Springer zu verdanken. Im Gegenteil. Aber, und wegen der Wichtigkeit der Sache möchte ich noch ein zweites ,Aber‘ hinzufügen, aber aber: Wie wollen wir Weltstadt sein, wenn wir kein einziges benutztes Haus in Berlin haben??? Humus für Kultur kommt aus wachsendem Dreck, aus menschlichem Most, um mal Lummer-Worte anzudeuten. Kultur der Menschen wächst aus kriminellem Schlamm, Kunst kommt aus Häuserschwamm, Tugend aus Not, und aus ungewissem Kot und Tohuwabohu entsteht etwas. Man muß sich für ein Kulturzentrum den Pflanzenvorgang denken — die Wurzeln legt und hat das Kulturzentrum im Unbestimmten. Ich warte täglich auf eine generelle Mitteilung des Berliner Senats, daß er, der Senat, Menschen aus allen Teilen der Welt einlädt, in Berlin leere Häuser zu benutzen. Also die totale Wende. Die Berliner Linie, wenigstens meine, ist, mehr, viel viel mehr solcher Kibuzze wie die UFA-Fabrik Familie Herzlich. Wann zieht die erste Tamilen-Kommune ins Charlottenburger Schloß? Das Vorrecht von Künstlern ist es, umsonst zu wohnen und dafür der Öffentlichkeit zu dienen. All die geräumten und rausgeschmissenen gelben Dreiecks-Träger — pardon: Nasses Dreieck Besetzer — sollten nicht weglaufen. All die Geräumten und Gejagten müssen schleunigst als Berliner Humus rehabilitiert werden. Verständnis hat jede Regierung, auch unsere, die jetzige. Und mir kann man doch vertrauen, wenn ich rufe: ,Ohne Hausbenutzer rutscht uns Berlin unter die Wanne-Eickel-Marke!‘“

DIEWEISHEITDESWIDERSPRUCHS