Der Fußgänger

Über Johann Bernhard Hermann (1761-1790), Jean Pauls Freund, der so gerne Arzt geworden wäre  ■ Von Karl Braun

1Am 15.11.1790 notiert der 27jährige Fritz Richter, gescheiterter Theologiestudent, Exhofmeister, Dorfschullehrer mit sieben Schülern, vor allem aber erfolgloser Satirenschriftsteller, in sein Tagebuch: „Wichtigster Abend meines Lebens: denn ich empfand den Gedanken des Todes; daß es schlechterdings kein Unterschied ist, ob ich morgen oder in 30 Jahren sterbe, daß alle Pläne und alles mir davon schwindet, und daß ich die armen Menschen lieben soll, die sobald mit ihrem Bißgen Leben niedersinken. [...] Ich vergesse den 15.November nie. Ich wünsche jedem Menschen einen 15. November. Ich empfand, daß es einen Tod gebe. [...] Der Gedanke ging bis zur Gleichgültigkeit an allen Geschäften.“

In dieser Todesvision des mittellosen, von Hunger und Armut gebeutelten Fritz Richter konzentriert sich die Erfahrung mehrerer Todesfälle, vor allem aber der Tod seines Freundes Johann Bernhard Hermann im gleichen Jahre, am 3. Februar 1790. Richter hatte sich im Spätherbst 1790 vor allem mit den Schriften und Briefen Hermanns beschäftigt, um ihm ein literarisches Denkmal zu setzen; doch über dieser Beschäftigung droht ihm die Welt verlorenzugehen. Der 15. November ist Höhepunkt und Überwindung der Krise zugleich. Richters Todesvision, jenes Atemholen an der Schwelle zu Wahnsinn oder Tod, ist der eigentliche Beginn einer großen Schriftstellerkarriere: Jean Paul hat hier zu sich selbst gefunden.

Jean Paul kehrt als ein die Menschen Liebender ins Leben und zu seinen Schreibgeschäften zurück. Aus dem Tod aber hat er sich den Atem Johann Bernhard Hermanns herübergerettet; dessen Stimme bleibt in seinem ganzen Werk lebendige und antreibende Kraft. Es ist eine radikale Stimme: die Stimme der „Unbeugsamen, Unangepaßten“, wie Günter de Bruyn in seiner schönen Jean-Paul-Biographie schreibt, in der Johann Bernhard Hermann in den Werken Jean Pauls immer wieder aufersteht.

Das klingt zum Beispiel so: Hermann hatte beiläufig erzählt, daß in Leipzig ein Aeronautiker zur Messe aufsteigen wollte. Jean Paul mag diese Notiz in seinem Luftschiffer Giannozzo, der eindeutig Züge Hermanns trägt, verarbeitet haben. Auch Giannozzo steigt in Leipzig auf, aber im Werk Jean Pauls ist es eine Reise um die Welt als Komödie und Tragödie.

„O Bruder Graul, kennst du auch den Ingrimm, wenn ein Mensch sich vergeblich ein paar Sündfluten oder Jüngste Tage oder einen mäßigen Schwefelpfuhl wünscht, und es wie ein fauler Hund mit anschauen muß, wie zahllose Blut- und Schweinsigel, Kirchenfalken und Staatsfalken — in allen Ländern, Departements und den drei Zeit-Dimensionen — ungestraft saugen, stechen, stoßen und rupfen; — wie sie, gleich dem grünen Wasserfrosch, der die bewohnten Schneckenhäuser verdauet, Häuser und Länder verdauen [...]? — O könnte man nur eine Woche lang als ein hübsches volles Gewitter über die Menschenköpfe ziehen und sie zuweilen berühren von oben herab, so wollt' ich nicht klagen!“

Der O-Ton Johann Bernhard Hermanns bei Beginn einer Reise zu Fuß, bei der Beschreibung des Blickes aus seinem Fenster in Göttingen oder bei Gedanken zum Verhältnis von Windentwicklung und großen Gebäuden klingt so: „Genug, wenn ich dir sage, daß der erste Morgen meiner Reise wegen seiner Heiterkeit bald zum frommsten Christen, und das Fluchen der Fuhrleute, das traurige Schiksal der lebendigen und verrekten Pferde, die Vergleichung hievon mit dem Schiksal der Menschen zum größten Naturalisten, und diese sämtlichen und noch mehrere dergleichen grillenmäßige Betrachtungen [...] mich zu dem größten Narren von der Welt machten. Unsere Wohnstube geht nach Abend zu und enthält (ohne alle Hyberbel) die schönste Aussicht, die ich je gesehen habe. [...] Denke dir aber ein sehr breit vor dir liegendes Thal, das durch manche Figuren von Feldern, Wiesen, Galgen, Schindanger usw. abwechselt und in der Mitte durch den schnurgerade sich verjüngenden [...] Casseler Weg wie ein adeliches Wappen von einem Pfahl durchschnitten wird. An so viele Orte ich noch gekommen bin und neben einer Kirche vorbey gieng, wurde ich eben so sehr wegen des stärker inkommodirenden Windes zum Fluchen bewogen, als die darinnen die Windstöße für ein Säuseln des Heiligen Geistes halten könten, der sie zum Beten treiben will.“

Diese radikale Stimme ist in Deutschland unbekannt geblieben. Selbst die Jean-Paul-Philologie hat Hermann sträflich vernachlässigt, obwohl seine Briefe an Albrecht Otto und Jean Paul von Kurt Schreinert 1932/33 in einer Reihe der estländischen Universität Dorpat mustergültig kommentiert, ungekürzt und unbeschönigt veröffentlicht worden sind.

2Johann Bernhard Hermann wird am 18.2.1761 im oberfränkischen Hof/Saale als Kind einer eingesessenen Zeugmacherfamilie geboren. Sieben seiner acht Geschwister sterben vor ihm: Unterernährung, Krankheiten, schlechte Wohnverhältnisse. Der Familie Hermann ist das Handwerk kein goldener Boden; sie lebt beständig am Existenzminimum entlang. Dennoch soll Johann Bernhard das Gymnasium besuchen, das er 1781 mit gutem Erfolg abschließt. Dann schlägt er sich ein Jahr lang in Hof als Nachhilfelehrer und als Apothekerlehrling durch. 1782 geht er mit dem Plan, Medizin zu studieren, nach Leipzig; er schreibt sich aber zuerst als Theologe ein, um auf die dabei gewährten und ihm lebensnotwendigen Vergünstigungen nicht verzichten zu müssen. Fünf Jahre hungert er sich in Leipzig durch: Die Hofer kürzen ihm ein bereits gewährtes Stipendium; erst im Herbst 1785 bekommt er einen Platz am fränkischen Freitisch, was ihn bewegt, noch zwei Jahre länger in Leipzig auszuharren. Während seiner Leipziger Zeit verfaßt er unter dem Pseudonym N.H. Marne zwei naturwissenschaftliche Bücher, um an etwas Geld zu kommen. Sie sind schnell und unter Druck geschrieben; er meldet am 10. Juni 1784 an Albrecht Otto, den er normalerweise um Geld anpumpt: „Von dem frühesten Morgen bis in den Abend arbeitete ich, um meinem Verleger bis Johannis einen neuen Wisch schicken zu können.“ Ein drittes Buch, für das er bereits einen Verleger gefunden hat, zieht er wegen Skrupel zurück.

1787 kehrt er krank und völlig verschuldet nach Hof zurück, wo er eine Hofmeisterstelle bekommen kann. Hier vertieft sich die Freundschaft mit Jean Paul. Er geht im April 1788 zur Fortsetzung des Medizinstudiums nach Erlangen, das er bereits im September 1788 aus Frustration und Geldmangel heimlich Richtung Göttingen verläßt. In Göttingen hat er Glück: Er bekommt eine Art Hofmeisterstelle bei einem französischen Grafen. Die äußere Existenz ist zumindest auf eine wacklige Art und Weise gesichert, obwohl er dauernd Schwierigkeiten mit dem Grafen hat. Dennoch findet er Zeit, naturwissenschaftliche und medizinische Studien zu betreiben; er hört bei Feder, Lichtenberg, Blumenbach. Im Winter 1789 hat Johann Bernhard Hermann einmal wenig Todesgedanken und Zuversicht für das neue Frühjahr. Am 3. Februar 1790, zwei Wochen vor seinem 29.Geburtstag, stirbt Johann Bernhard Hermann in Göttingen, laut Totenbuch der Göttinger Johanniskirche „an Gicht und Ausfluss“. Sein Grab ist unbekannt. Jean Paul schrieb: „Aber auf Seines habt ihr gar nichts [weder ein hölzernes noch metallenes Kreuz; Anm. K.B.] gestekt, ihr Göttinger! wie beim Begrabnen im Ozean.“

Die Briefe aus Leipzig gehen hauptsächlich an Albrecht Otto; man merkt ihnen an, wie unbehaglich Hermann das Schuldenmachen, die Verzögerung des Zurückzahlens bei gleichzeitigen neuen Bitten ist; nebenbei erzählt er etws von seinem Leben. In den Briefen aus Erlangen und Göttingen, deren Adressat Jean Paul ist, herrscht der Ton tiefer und offener Freundschaft. Hier offenbart Hermann seine intimsten Geheimnisse, Verletzungen, Hoffnungen. An Jean Paul hatte er am 9.8.1788 geschrieben: „ [...] daß man wenigstens einen Menschen sich wünscht, mit dem man ganz aufrichtig seyn kann, mit dem wie mit einem alles durchsehenden Gott muß umgehen können, und dieser bist du ohngefehr nicht länger als seit 3/4 Jahren in meinen Augen.“

In beiden Briefsammlungen findet sich das eindringliche Bild Hermanns als kompromißloser, stolzer, freier und zugleich gütiger Mensch. Johann Bernhard Hermann war Zeit seines Lebens ein Pauper, ein Armer; Existenznot und persönlicher Stolz bestimmen seine Wahrnehmung: Dieser zwar im Übermaß vorkommende, selten aber schriftlich dokumentierte Blickwinkel sowie seine Sprachkraft machen Hermanns Briefe zu einem unschätzbaren Sozialdokument des achtzehnten Jahrhunderts. Denn in den Berichten und Beobachtungen dieses aus kleinstbürgerlichen Verhältnissen stammenden Intellektuellen entwickelt sich ein Panorama sowohl des Alltagslebens der unteren Volksschichten wie eines des Universitätslebens aus der Sicht eines akademischen Underdogs.

3Wenn Johann Bernhard Hermann die Enge in Leipzig nicht mehr aushielt oder wenn er wissen wollte, was mit seinem zweiten Manuskript in Berlin passiert war, dann hat er sich, und zwar zu Fuß, auf den Weg gemacht.

„Die Wahrheit, daß jedes Wirtshaus eine Welt im Kleinen ist, galt hier vorzüglich, und dies war nebst vielem anderen die beste Nahrung für meinen hypochondrischen Beobachtungsgeist. [...] Doch konnte ich den 3ten Tag frisch und gesund wieder aufstehen, und nun reiste ich [...] bis Stollberg, das traurigste Nest, das man sich nur denken kan. [...] Unter vielen den Abend über geführten Gesprächen ist mir dieses am besondersten gewesen, daß die Frau auf alle Mannspersonen schimpfte und mir in Gegenwart des Mannes betheuerte, daß sie ihren Schweinehund von Man noch nicht hinangelassen hätte; und er versicherte dagegen, daß es ihm niemals eingefallen wäre, sich mit ihr abzugeben etc. Als ich meine elende Biersuppe nicht aufaß, so zankten sie sich beyde beynahe darum, wer sie gar ausessen sollte; im ganzen Haus waren nur 2 Messer, davon ich eines hatte, und mit dem andern wechselten sie beym Butter= und Brodessen. [...] Als der Wirth bey der letzten ernsthaften Bedrohung seiner Frau, daß sie ihn mit den Haaren herausziehen wollte, endlich aufgestanden war, so schrie er, daß ihm vom Kayser Friedrich geträumt hätte. Auf meine Fragen, was er damit wollte, erzählten mir die beyden jungen Eheleute ein Mährgen von diesem Kayser, das in allen Stücken mit der Geschichte des Rübezahl übereinkommt. [...] Den 5ten Tag kam ich endlich nach Schladen, ein Ort, worinnen mehr catholische (Hildesheimer) als lutherische wohnten, NB es war grün Donnerstag Abends. [...] — Im Wirtshause hatte ich unter mehreren lustigen Anektoden auch diese [...] mitangesehen. Ein Katholischer Fuhrmann sang seine lateinische Charfeytags=Litaney, eine lutherische Magd spottete ihn aus, machte ihn irre, löschte das Licht aus; der catholische Wirth sah alles mit Lachen an, — endlich wurde der Fuhrmann toll, dekte der Magd von forne den Rock auf, gab ihr auf die dicken Beine eine Anzahl von Maulschellen und raufte sie, wo mir recht ist, an den Haaren vulvae, — sang alsdann seine Litaney fort, und die Magd fluchte, schimpfte, lies ihn aber dabey mitfrieden [...].“

Fürwahr, eine Welt im Kleinen, was da Johann Bernhard Hermann vom interkonfessionellen Geschlechterkrieg und von einer vorromantischen Kyffhäuser-Version zu berichten hat.

Er, der nie Geld im Sack hat, vermerkt peinlich genau die Ausgaben; so daß der Sozialhistoriker erfahren kann, daß „eine herrliche Suppe und Eyerkuchen für 2 Groschen“, anderswo das Schlafen „auf der Streu“ und der Morgenkaffee, der „wie gebrante Erbsen schmeckte“, für teure fünf Groschen zu haben war. Auch ist zu erfahren, daß einige Städte sich in zweihundert Jahren nicht allzu sehr ändern: „Wolfenbüttel ist eine sehr schöne und feste Stadt, aber etwas zu todt ist es darinnen.“ Hermanns Ankunft in Berlin: „Ich erfuhr sogleich beym Umsehen in der Stadt [...], daß tags darauf einer sollte verbrant werden, und der beständige hin= und hergehende Zug der Leute, die den Scheiterhaufen vor der Stadt besuchen, bewog mich, ein gleiches zu thun. Ich sah hiebey ein Dutzend Räder voller theils halb=, theils ganz verwester Leichname, nach denen mich aus mancherley Ursachen gelüstete.“

Hermanns im ersten Moment oft zynisch erscheinende Bemerkungen — hier ist er Medizinstudent, der die Anatomiestunden nicht bezahlen kann — sind meist Abwehr gegen schreckliche Situationen. Das Schicksal des wegen Diebstahls und Feuerlegens zum Tod durch Verbrennen verurteilten Hausknechts Johann Christian Höpners beschäftigt ihn in vielfacher Weise: „Das Verbrennen eines Menschen im Scheiterhaufen ist freilich eine Scene, die jämmerlicher als die bisherigen [...] ist. [...] — Noch eine kleine Anekdote von einem alten Handelsjuden, der blind mitfuhr und wegen seiner Läuse ganz hinten sitzen mußte. Er hatte bey sehr vielen Gesprächen kein Wort geredet; als aber nach mehr als 2 Stunden das Gespräch auf die Art des gestrigen Verbrennens kam, so fieng er auf einmal ganz lebhaft an: Jo, das war eine rechte Strafe, in Bayern würden sie bis an den halben Leib im Scheiterhaufen vergraben — do wiste man doch, daß sie verbrennen; hier (weil der gestrige wie in einen Bakofen hinein geführt, angebunden etc. wurde) hier miste man erst rothen (errathen, ob er nemlich gehörig verbrant würde). Hättest du den Ton gehört, mit welchem er dieses sagte, so würdest du gewis den bittersten und schadenfrohesten Has auf die Christen an diesem alten Kauz erkant haben. Ich konnte seine Reden sehr lange nicht aus dem Sinne bringen.“

Nach Berlin ist reiste er ebenfalls als blinder Passagier auf der Postkutsche; dabei wurde dem Postillion eine geringe Summe in die eigene Tasche gezahlt. Dem Fahrgast drohte dabei eine Strafe von zehn Talern, dem Postillion möglicherweise sogar Festungshaft.

„Endlich kam die Postkutsche mit 3 ordentlichen Passagieren und 6 Blinden, kaum daß Ich der 7te seyn konte [...] Ich kam bey den ordentlichen Passagieren zu sitzen, und diese waren 2 Handelsleute und eine preußische Soldatenfrau, die auch nach Berlin fuhr und stolz, dumm, ein halber Teufel etc. war. Doch war sie gegen mich gut, aber desto schlimmer gegen die anderen blinden. Hiebey lernte ich mich nicht sowohl fühlen als die erwünschte Gelegenheit zu wissen, wie es einem zu Muthe seyn mus, wenn man sich in einer noch niederträchtigern Lage befindet, als das Blindfahren ist. [...] Meine blinden waren eine Nothgerbersfrau aus Leipzig mit einer schönen und mit einer heßlichen Tochter, ein preußischer Soldatenähnlicher Kerl mit seinem Bruder und einem Mensch (gen. foem.).“

Überhaupt ist sich Hermann seines Standes genau bewußt: „Taugte ich zum Soldaten, so verkaufte ich mich irgend einem Fürsten, dessen Landeskind ich nicht wäre, sonst müste ichs umsonst seyn, und würde das Land mit dem Rücken ansehen, worinnen meine armen Eltern die Renten vermehren helfen, von denen die reichsten steuerlosen Beamten Söhne die beträchtlichsten Wohltaten erhalten.“

Eine der großen Sorgen Johann Bernhard Hermanns ist, ein guter praktischer Arzt zu werden. Sein Motto lautet: „Entweder ein nichtswürdiger Bettler oder ein mit Ehren gemachter und mit Ehren wirkender Doctor. Das medicinische Hohenpriestertum hat erst wieder vor kurzen ein Leipziger Kind zum Doctor gemacht, der, mich sollen alle Teufel holen, nicht soviel von der Arzneykunst versteht als mein kleiner Hagen, der ehedem neben mir in der Fischerschen Apotheke lernte; und vor einiger Zeit schrieb der Rath aus einem gewissen Örtgen an einen hiesigen Dr., wie es denn gekommen sey, daß sie ihnen einen solchen Esel zugeschikt hätten, der auf Mord nacheinander wegcurirte. Das macht, weil er bei Decan Dr. Bose 2 Jahre Bedientendienste verrichtet hatte [...].“

Gerade bei Dr. Bose war Johann Bernhard Hermann eine Famulusstelle angeboten worden; ihm, dem völlig Mittellosen, hätte diese „Connection“ wohl nützlich sein können. Doch bereits beim ersten nicht medizinischen Auftrag rebelliert er und schmeißt bald darauf die Stelle „in nicht übelgemeinter Gesinnung und geziemender Hochachtung“ hin.

„Ich merkte also gleich, daß ich würde Famulus werden sollen. Doch fürchtete ich mich auch für die niedrigen Dienste, welche die Famuli bey unserm Herrn Decan thun müssen; denn Lamprecht, jener Esel, hatte sogar einmal Wasser in der Tasse beym Born geholt, den Kaffee in Garten getragen und sich bisweilen von der Madame Bose, die die Hose anzuhaben scheint und die Famulos eigentlich statt Bediente braucht, wie ein Saujunge herunter machen lassen. Die Gedult alles dessen verhalf ihm ohne Zweifel zum Dr. [...] Einst (am 3ten Tage ohngefehr) gab mir Bose einen Auftrag, von dem ich wuste, daß er von ihr herrührte, der mir nicht verständig war. So lang er redete, nahm ich mein Schnupftuch heraus, band einen Knoten vor seinen Augen darein, und als dann fragte ich ihn wieder, was er mir eigentlich gesagt hätte. Er merkte den Possen [...] ,Was will man machen, man mus sich gar viel in der Welt gefallen lassen, mein lieber Hermann etc.‘ — Da wollte ich lieber mein Brod betteln, als mir so etwas gefallen lassen, und wer das seinige gut gelernt hat, hat dies ohnehin nicht nöthig.“

„Das Seinige gut lernen“ ist Hermanns Anliegen. Er weiß aber, daß die medizinische Ausbildung, selbst wenn er das Geld dafür zusammenbrächte, alles zu wünschen übrig läßt. Nicht zuletzt deswegen verläßt er Erlangen, um die damals fortschrittlichste Universität Göttingen zu besuchen. Was er zum Beispiel aus Erlangen vom gynäkologischen Unterricht zynisch verpackt zu berichten weiß, bestätigt und bestärkt alle feministische Kritik am zynisch- brutalen Schalten und Walten der Männer in der entstehenden Frauenheilkunde. Hure bedeutet hier nach dem damaligen Sprachgebrauch einfach eine unehelich schwanger gewordene Frau, die sich, um überhaupt medizinische Versorgung zu haben, der Universitätsmedizin zur Verfügung stellt.

„Ihr alle 9 Musen und ihr das Dutzend gar voll machenden 3 Grazien helft mir, wie ich meinem zärtlichen Freunde eine der merkwürdigsten Begebenheiten auf die rührendste und empfindungsvollste Weise erzähle!! — Du weist, daß ich noch so rein und unschuldig als ein Kind von 2 Monaten bin, NB, in Ansehung des weiblichen Geschlechts. [...] Kurz merke dir den Tag, da ich das erstemal das Vergnügen hatte, [...] als ich zum erstenmal meinen rechten Zeigefinger in eine lebendige Votze stekte. — Ja, du hättest mich sehen sollen, wie mir hiebey zu Muthe war, wie es gerne für Schaam und aus einer gewissen Art von Eckel noch länger aufgeschoben hätte, ich aber durfte mich es vor den Commilitonen nicht einmal merken lassen, daß ich ganz unwissend hierinnen wäre, und was halfs: mit feuerrothem Gesicht wagte ichs, und es gelang mir besser, als ich gewünscht haben würde, wenn mir so viel Zeit dazu übrig gelassen worden wäre. — [...] Die Sache verhält sich ernstlich so: ich gieng zu Rudolph, fragte ob ich seinen nunmehro zu Ende gehenden Vorlesungen über die Hebammenkunst mit beywohnen könte. ,Ja! aber sie werden nur noch etliche Wochen dauern; indessen, wenn Sie beym Praktischen seyn wollen, [...] so wird es mir ein Vergnügen seyn, Ihnen in etwas dienen zu können.‘ Ich zahlte meinen Gulden, gieng gleich ins Auditorium, nach 1/2 Stunde kam eine Hure, sie stellte sich hin, und nachdem Rudolph zuerst touchiert hatte, grif einer um den andern hinan oder vielmehr hinein. [...] In Erlang kam eine Geburt zu machen oft auf 3 Dukaten, bey einer zuzusehen wenigstens 2 fl., auch wohl 3-4 fl., und das touchiren bestand in bloßem hineingreifen. Hier [in Göttingen; Anm. K.B.] muß man sehen, wie der Nabel gesunken oder erhaben, der Uterus gestiegen, geneigt, der Leib hart oder weich, das Becken gebaut [...] etc. etc. Das heiße ich zweckmäßigen Unterricht. Voriges halbes Jahr machte ich alle Manoevres am Phantom — in Erlang werden Catechismusproben unter Scheltworten einer Matrosenstimme durchgepeitscht.“

In Erlangen sah auch einer Geburt zu; es ist für ihn ein erschütternder Moment, in dem sich seine ganze menschliche Größe zeigt. „Die Schmerzen, die gewöhnlich jammernden Schmerzen der reuigen Hure, bewegten mich beynahe zu ausbrechenden Thränen, und der zur Welt angelangte Mensch erhielt in mir den ganzen Tag eine fixe Idee, welche mich beym unwiderleglichsten Atheismus gezwungen haben würde, eine Gottheit — fast möcht ich lieber sagen: zu sehen, als zu glauben.“

Ist es nicht so, daß diese Gottheit, die er mehr sieht als glauben kann, eigentlich der neu zur Welt gekommene Mensch ist? Ein großes Thema ist da unscheinbar angeschnitten, das über Jean Pauls Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab zu Georg Büchners Lenz hinführt. Büchner läßt Lenz, nach Gott befragt, sagen: „Aber ich, wär ich allmächtig, [...] ich könnte das Leiden nicht ertragen, ich würde retten, retten.“ Dieses „Ich würde retten“ ist auch Johann Bernhard Hermanns Grundton. Das unsägliche Leiden der Menschen schließt die Existenz eines gütigen und allmächtigen Gottes aus; Christus wird dabei mahnender Prototyp menschlichen Leidens. Es trösten ihn die „an die Wege gepflanzten catholischen Bilder“: „Da sieht man immer den vortrefflichsten Menschen= und Wahrheit= liebenden Mann zerprügeln, mit bitteren Kränkungen noch mehr als mit Stacheln, Spießen etc. verwunden und bey den häufigsten Stößen und Schlägen unter dem Kreuz erliegen etc.“

Es ist müßig, über die weitere Entwicklung eines so früh abgebrochenen Lebens zu spekulieren; vielleicht hätte Johann Bernhard Hermann wie sein Freund Jean Paul die Zustände aus umfassender Menschenliebe karikiert und kritisiert, vielleicht hätte er gar wie Georg Büchner den Schritt zur Notwendigkeit einer sozialen Revolution getan. Das Zeug zu beidem hätte er gehabt; denn, so schrieb ihm Jean Paul, es ist „zu muthmassen, daß Sie gar eine Misgeburt sind. [...] Sie haben zwei Glieder, die man bei ordentlichen Menschen wol nicht antrifft, nämlich einen Kopf und ein Herz.“