„Wir sind zur Mittelmäßigkeit zurückgekehrt“

■ Ein Gespräch mit dem Chef des Maurice Bishop Patriotic Movement (MBPM), Dr.T.A. Marryshow, über Grenada sieben Jahre nach der Invasion der USA

Das Maurice Bishop Patriotic Movement wurde im Mai 1984 von Anhängern des früheren Ministerpräsidenten gegründet. Trotz des hohen Ansehens, das der nach einem erbitterten Machtkampf von linken Hardlinern der eigenen Partei (New Juwel Movement) 1983 erschossene Revolutionsführer auf der Karibikinsel genießt, kam das MBPM bei Wahlen jeweils nur auf wenige Prozent der Stimmen. Der Parteivorsitzende, Terrence A. Marryshow, ist Enkel eines in Grenada hochangesehenen Intellektuellen, der ein halbes Jahrhundert für die Unabhängigkeit und eine Föderation der Westindischen Inseln stritt, ehe er 1958 starb. Der MBPM-Chef Marryshow, ein während und nach den Revolutionsjahren (1979 bis 1983) in Kuba ausgebildeter Mediziner, durfte seit 1986 wegen seines politischen Engagements nicht praktizieren. Das Berufsverbot wurde erst im Oktober von der Regierung aufgehoben.

taz: Herr Marryshow, welche Ziele verfolgt das Maurice Bishop Patriotic Movement in Grenada?

Terrence A. Marryshow: Das MBPM ist in erster Linie eine Bewegung zur Wiederherstellung der Souveränität und Unabhängigkeit, die mein Land verloren hat, als Truppen der Vereinigten Staaten im Oktober 1983 auf grenadinischem Boden landeten. Wir sehen uns außerdem als eine Gruppe, die die Ideen der Revolution von 1979 weiterverfolgt. Diese Revolution hat, obwohl sie nur viereinhalb kurze Jahre Bestand hatte, das Leben des grenadinischen Volkes tiefgreifend verändert. Wir wollen den Versuch fortsetzen, Grenada den Wohlstand zu bringen, der dem Land mehr als 300 Jahre vorenthalten wurde. Zwischen 1979 und 1983 konnten wir ahnen, was ein armes Land erreichen kann, wenn es sich von den Fesseln des Kolonialismus und Imperialismus befreit.

Ihre Organisation hat 1984 und in diesem Jahr an den Parlamentswahlen teilgenommen — mit magerem Erfolg. Andererseits genießt der ermordete frühere Premierminister Maurice Bishop bei vielen Menschen in Grenada hohes Ansehen. Warum diese Wahlniederlagen einer Partei, die sich auf ihn beruft?

Wir müssen die Person Maurice Bishop, den die Leute wirklich verehren, trennen von den Vorgängen des Oktobers 1983. Auf der einen Seite sind wir Erben eines sehr positiven Vermächtnisses, was langfristig vorteilhaft für uns sein wird. Gleichzeitig sind wir aber mit einem sehr negativen Vermächtnis belastet, das mit den Ereignissen des 19.Oktober 1983 zusammenhängt, als sich die Revolution selbst zerstörte. Die Schrecken dieser Tage sind in den Köpfen der Menschen noch sehr präsent. Und obwohl wir den Eindruck haben, daß es bei der Wiedergeburt einer progressiven Bewegung Fortschritte gibt, sind die Leute noch nicht bereit, das positive Vermächtnis der Revolution über ihr schreckliches Ende zu stellen. Außerdem hat die Invasion der USA eine Atmosphäre der Angst hinterlassen. Es gibt viele Menschen, die glauben: Selbst wenn unsere junge Partei gewinnt, werden uns die Amerikaner das nicht erlauben. In den letzten Wochen vor den Parlamentswahlen im März dieses Jahres wirkte sich auch die Befürchtung negativ aus, daß der von der Revolution gestürzte frühere Diktator Eric Gairy an die Macht zurückkehren könnte. Die Leute haben lieber die Parteien gewählt, denen sie am ehesten zutrauten, Gairy draußen halten zu können.

Mein Eindruck in diesen Wochen ist, daß die Leute in keiner Weise „fertig“ sind mit den Ereignissen des Oktober 1983.

Damit werden wir nie fertig. Diese Ereignisse bleiben die tragischste Periode der Geschichte dieses Landes. Gleichzeitig können wir nicht weiter in Rückständigkeit verharren. Aber wer bringt Grenada voran, ähnlich wie es die Revolution unter Maurice Bishop getan hat? Bisher haben die Leute nach 1983 Regierungen gewählt, die sich um das Volk wirklich nicht scherten.

Sehen Sie keinen Unterschied zwischen der gegenwärtigen Administration unter Nicholas Brathwaite und der Vorgängerregierung unter Herbert Blaize?

Im Grunde ist die neue Regierung nicht mehr als die Fortsetzung der vorigen. Eine ganze Reihe der alten Minister sind wieder im Amt. Es gibt keinerlei politische oder prinzipielle Unterschiede.

In den Zeitungen ist heute viel die Rede von allgemeinem Stillstand...

Das ist eine sehr zutreffende Beschreibung der Situation. Keine Regierung vorher oder nachher hat die politischen Standards erreicht, die zwischen 1979 und 1983 gesetzt wurden. Wir sind zur Mittelmäßigkeit zurückgekehrt. Nichts bewegt sich. Das erste Monument, das die Revolution uns hinterlassen hat, sieht jeder, der unser Land besucht. Es ist der Internationale Flughafen von Point Salines. Das war der Anfang eines Entwicklungsprozesses. Seit dem Flughafenbau hat es keine einzige vergleichbare Infrastrukturmaßnahme gegeben.

Wie sieht das finanzielle Engagement der Vereinigten Staaten seit der Invasion aus?

Das war eine der größten Enttäuschungen für die grenadinische Bevölkerung, die die Invasion mehrheitlich als Rettungsaktion befürwortet hat. Die Leute wurden getäuscht. Viele haben geglaubt, daß nun US-Dollars wie Manna vom Himmel fallen würden. Tatsächlich sind die Bedingungen für die durchschnittlichen grenadinischen Bürger heute erheblich schlechter als zur Zeit der Revolution; zum Beispiel bezüglich der Gesundheitsvorsorge, der Ausbildungsmöglichkeiten, der Arbeitsplätze oder der Wohnungsfrage. Das ist der Ausgangspunkt einer allgemeinen Desillusionierung und Apathie. Die Leute machen sich Gedanken darüber, daß es in einer Periode als Grenada auf die Hilfe aus Ländern angewiesen war, die sehr viel ärmer sind als die Vereinigten Staaten, Großbritannien oder Deutschland, mehr Entwicklung gab als heute, wo wir uns wieder dem geopolitischen Orbit des Westens angeschlossen haben.

Ist es für Ihre Organisation nicht auch beruhigend, daß die USA die grenadinische Gesellschaft nicht so intensiv durchdringen wie befürchtet?

Sie durchdringen das Land nicht so sehr in Bezug auf eine wirkliche wirtschaftliche Entwicklung. Aber immerhin genug, um bei den Leuten den Eindruck zu erwecken, sie seien unsere besten Freunde.

Seit der Revolution von 1979 und vor allem im vergangenen Jahr hat sich die politische Weltkarte vollständig verändert. Welche Schlüsse ziehen Sie aus dem Zusammenbruch der sozialistischen Länder in Osteuropa?.

Zunächst: Diese Ereignisse sind für uns hier sehr, sehr verwirrend. Natürlich ist es enttäuschend, daß unsere früheren Alliierten so auseinanderfallen. Das heißt, daß eine Menge Solidarität und Unterstützung, die linke Bewegungen und Parteien hier bisher erhalten haben, nicht mehr zur Verfügung steht. Ich glaube, der Zusammenbruch hat viel damit zu tun, daß sich die Regimes, die sich dort etabliert hatten, weit von einem wirklich sozialistischen Kurs entfernt hatten. Man kann nicht ein System errichten, das den Leuten keine Möglichkeit gibt, sich frei zu äußern und zu bewegen. Aber das ändert nichts an den Verdiensten des Sozialismus zum Beispiel auf dem Gebiet der Gesundheitsversorgung, der Ausbildung und so weiter, alles Dinge, die gerade für uns sehr wesentlich bleiben. Ich kann nicht glauben, daß die Idee des Sozialismus als Ideal mit diesen Ereignissen endgültig zerstört ist. Der Kapitalismus hat die wesentlichen Probleme der Menschen nie gelöst. Er hat immer eine privilegierte Klasse hervorgebracht, die auf Kosten der Mehrheit lebt. Die USA sind da sicherlich das typische Beispiel.

Zurück nach Grenada. Haben Sie den Eindruck, daß es den Amerikanern und der Blaize-Regierung im Laufe der Jahre gelungen ist, die Opfer und die Täter des blutigen Endes der Revolution gleichermaßen verantwortlich zu machen?

Nein, das haben sie vergeblich versucht. In den Köpfen der Grandiner ist immer klar geblieben: Maurice Bishop ist ein Held und Märtyrer unseres Volkes und Bernard Coard ist ein Schuft. Aber wir meinen, daß unserer Geschichte, den Helden und Märtyrern unseres Volkes, heute ganz allgemein nicht genug Respekt und Anerkennung gezollt wird: angefangen von den frühen karibischen Kämpfern, die 1654 lieber von einer Klippe ins Meer sprangen als sich den französischen Eroberern zu ergeben, über meinen Großvater T.A. Marryshow, der für die karibische Einigung kämpfte, bis hin eben zu Maurice Bishop, der ein moderner, progressiver und dynamischer Premierminister war.

Immerhin wird der Ermordeten des 13.Oktober 1983 mit einem „Nationalen Gedenktag“ gedacht. Premierminister und Generalgouverneur nahmen an einer Zeremonie zu Ehren der Toten teil.

Die Zeremonie hatte etwas von einer einer Farce und war eher eine Beleidigung für die, die 1983 ihr Leben verloren haben. Es gibt nicht mal eine Gedenkstätte für die Menschen, die im Fort gestorben sind. An den Zeremonien sollten alle Menschen teilnehmen können und nicht nur Würdenträger und Diplomaten.

Wann, glauben Sie, wird die Zeit in Grenada reif sein, für einen Wahlsieg Ihrer Partei?

Das ist schwer zu sagen. Sicher ist nur, daß unsere Zeit kommen wird. Die Grenadiner haben alles mögliche probiert. Sie haben Gairy ausprobiert und sie haben seit 1983 drei Regierungsparteien ausprobiert. Es bleibt eigentlich nur noch eine Alternative — und das ist unsere Bewegung. Wann immer die Leute bereit sind, werden wir da sein. Wir werden weiter für die Sache kämpfen, für die Maurice Bishop sein Leben gegeben hat. Interview: Gerd Rosenkranz