Nicht nur Freude nach Marschbefehl

In Baden-Württemberg ziehen 20.000 Franzosen ab/ 3.500 Zivilbedienstete stehen schon bald auf der Straße/ Kleine Standortgemeinden befürchten Finanznöte und wirtschaftliche Einbußen  ■ Von Erwin Single

„Die größten Probleme mit der Abrüstung“, hatte der Unternehmensberater Roland Berger bereits im Frühjahr erkannt, „werden die Kommunen mit großen Garnisonen haben.“ Wenn die Truppen abziehen, lauteten nicht nur Bergers Befürchtungen, werden Hunderte vorwiegend kleine Standortgemeinden in wirtschaftliche Nöte geraten.

Mit einem weinenden und einem lachenden Auge wurde in den betroffenen baden-württembergischen Kommunen der vor einer Woche verkündete Pariser Marschbefehl für den Abzug von 20.000 französischen Soldaten im kommenden Jahr aufgenommen.

Daß ein solcher Abrüstungsschritt zwar Freude nicht nur bei denjenigen auslöst, die Soldaten ohnehin für überflüssig halten, bei denen, die mittelbar und unmittelbar davon leben, jedoch Befürchtungen hervorruft, das haben schon etliche Gemeinden erfahren müssen, als die amerikanischen Streitkräfte ihre Reduzierungspläne offenlegten. Geringere Finanzzuweisungen, Konsumrückgang, zurückgelassene Altlasten und steigende Arbeitslosigkeit trüben manchen Vorteil wie etwa die erwartete Verfügung über freiwerdendes Gelände.

Der Abzug zweier, 1.800 Soldaten starker Regimenter, so wurde die Ankündigung der Franzosen im Müllheimer Rathaus kommentiert, bedeute für die Stadt und ihre rund 15.000 Einwohner einen herben Verlust, der nicht zu ersetzen sei; allein schon die eine Million DM weniger an Zuweisungen aus dem Topf des kommunalen Finanzausgleiches werden in die Stadtkasse ein Loch reißen. Bei der Gewerkschaft ÖTV wird nun befürchtet, daß viele der rund 3.500 Zivilbeschäftigten der Franzosen arbeitslos werden und die Arbeitslosenquoten in den Standortgemeinden sprunghaft ansteigen.

Je kleiner die Stadt, desto größer ist die Beunruhigung, der Abzug könnte sich negativ auf den regionalen Wirtschaftskreislauf auswirken. Auch wenn der Einzelhandelsverband Südbaden einen Einbruch nicht befürchtet, trifft es viele Läden und Geschäfte — ganz zu schweigen von den Firmen und Betrieben, die von der Infrastruktur, dem Bereich der Reparatur und Wartung oder den Freizeitvergnügungen der Soldaten und deren Angehörigen profitiert haben. Auch kulturell drohe ein Verlust: So muß sich etwa die im Kulturaustausch sehr engagierte deutsch- französische Gesellschaft in Tübingen neu orientieren, wenn sie ihre französischen Mitglieder verliert.

Ein Jahr früher als erwartet holt die „Forces Francaises en Allemagne“ (FFA) den Großteil ihrer rund 27.000 in Baden-Württemberg stationierten Soldaten zurück; laut dem französischen Oberkommandierenden, General Noel Chazarain, sollen dabei die Stationierungsstandorte Müllheim, Kehl, Karlsruhe und Tübingen-Reutlingen ganz aufgegeben werden. Offensichtlich traut man dem reichen Südwesten dabei am ehesten zu, strukturelle Probleme im Zusammenhang mit dem Abzug, der in den Grundzügen beim deutsch- französischen Gipfel im September in München vereinbart wurde, zu lösen.

Die Truppenregion Nord im strukturschwachen Nachbarland Rheinland-Pfalz bleibt vorerst unangetastet; weitere Schritte hat die FFA für 1992 angekündigt. Derzeit sind 46.000 französische Militärangehörige in der Bundesrepublik stationiert.

„Die jetzige Freigabe kommt unseren Vorstellungen in weitem Umfang entgegen“, erklärte Stuttgarts Regierungssprecher Manfred Zach bei der Bekanntgabe der Abzugspläne. In den betroffenen „Belegungsgemeinden“, von den Standortkommandeuren vorab informiert, wird bereits eifrig geplant.

In Kehl, das nach Aussage seines OBs Detlev Prößdorf ein „gewisses Ausdehnungsbedürfnis“ hege, hat die Stadt sofort Anspruch auf die rund 300 Wohnungen, zwei Kasernenanlagen und weitere Freiflächen aus dem Besitz des 32. Pionierregiments und einer Versorgungseinheit angemeldet.

In Karlsruhe, wo die Franzosen 13,5 Hektar belegten, werden dringend Wohnungen benötigt; die Kasernengebäude ließen sich zu Sozialwohnungen umbauen oder in Wohnheime etwa für Aussiedler umwandeln.

In Tübingen, wo die Garnison im Süden der Stadt restlos aufgelöst und ein 115 Hektar großes Areal mit Wohnungen, Kasernen und Übungsplätzen auf einen Schlag frei wird, kursieren alle möglichen Vorschläge für eine „Standortkonversion“: die Unterbringung von Aussiedlern, Asylbewerbern und Studierenden, die Aussiedlung von Verwaltungsbehörden, Handwerkerhöfe, Gewerbenutzung und Neuansiedlung, Schaffung mietgünstigen Wohnraums, die Weiterbenutzung französischer Schulen und Kindergärten — und das noble Offizierskasino als Kulturtempel.

Auch die Universität hat Optionen auf Geländeteile. Oberbürgermeister Eugen Schmid will möglichst viel der „Erbmasse“ für die Stadt in Beschlag nehmen; das Gelände soll mit einem Flächennutzungs- und Bebauungsplan schnellstens verplant werden, damit „kein Weg an der Stadt vorbeiführt“. Tübingen verfügt über Erfahrungen, was sich aus militärischem Gelände alles machen läßt: Auf dem von den Franzosen in den 60er Jahren aufgegebenen Exerzierplatz und Munitionsdepot wurde ein kompletter Stadtteil für 10.000 Bewohner hingeklotzt.

Völlig offen ist jedoch, für welche Flächen die Kommunen überhaupt Zugriff erhalten und zu welchem Preis sie von den zuständigen Liegenschaftsverwaltungen des Bundes abgegeben werden. Zunächst sind Verteidigungs- und Finanzministerium an der Reihe, die „Entbehrlichkeit“ der Gelände zu prüfen und eigene Ansprüche anzumelden. Danach erst wird das Ringen zwischen Bundesvermögensamt und Kommunen über Verkaufspreise, Altlastenhaftung und -sanierung und weitere Nutzung beginnen.

Nach der bisherigen Rechtslage muß der Bund zu Marktpreisen verkaufen, nach der Finanzierung der Einheit wohl erst recht. Die Kommunen befürchten, hierbei gegenüber den jetzt schon Schlange stehenden privaten Investoren das Nachsehen zu haben. Nicht wenige Bürgermeister, unter ihnen Freiburgs OB Rolf Böhme, verlangen die Freigabe zu Preisen weit unter dem Verkehrswert; manche Kommunalpolitiker fordern sie gar zum Nulltarif — als Entschädigung für die Lasten, die die Städte durch die Garnisonen jahrelang getragen haben.

Innenminister Dietmar Schlee hatte bereits im Oktober seine Unterstützung bei einer Senkung der Erwerbskosten zugesichert, „um vor allem für den sozialen Wohnungsbau kommunalfreundliche Lösungen zu suchen“. In den Kommunen erwecken solche Versprechen jedoch wenig Hoffnung. Chancen für einen billigen Kauf sieht Tübingens OB Schmid nur, wenn der Bundestag Preisnachlässe gesetzlich ermögliche.