Streik legt Schienenverkehr im Osten Deutschlands lahm
: Eisenbahner: Nichts geht mehr

■ Der Fernreise- und Güterverkehr der Deutschen Reichsbahn ist seit Montag morgen weitgehend zum Erliegen gekommen. Seit Sonntag abend waren der Berliner Hauptbahnhof und Bahnhof Zoo am Streik beteiligt, alle weiteren großen Bahnhöfe zwischen Ostsee und Thüringen schlossen sich dann in den Nachtstunden an. 260.000 Reichsbahner befinden sich im Ausstand, um ihren Forderungen nach Lohn- und Gehaltserhöhungen sowie Kündigungsschutz Nachdruck zu verleihen.

Seit 18 Uhr wird bei der Deutschen Reichsbahn gestreikt“, erklärte der Berliner Bezirksleiter der Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands (GdED) auf einer Versammlung im Berliner Hauptbahnhof. Von da an ging nichts mehr im Fernverkehr zwischen der ehemaligen DDR und Westdeutschland. Auf 26 Bahnhöfen in den neuen Bundesländern und Ost- Berlins standen die Züge ab Montag morgen 6.00 Uhr still. Alle Großstädte und andere wichtige Eisenbahnknotenpunkte waren betroffen. Lediglich der S-Bahn-Verkehr in Berlin und anderen Großstädten blieb weitgehend verschont. Auf den Fernbahnhöfen dagegen drängten sich die hängengebliebenen Reisenden. In Berlin wurden zum Teil Ersatzbusse nach Hamburg und anderen Städten eingesetzt. Viele Reisende wichen auf die Flughäfen aus, wo allerdings nach kurzer Zeit auch kein Ticket mehr zu bekommen war.

Die GdED fordert die übernahme der Rationalisierungs- und Kündigungsschutzabkommen der Bundesbahn auch für die derzeit noch 260.000 Beschäftigten der Reichsbahn. Außerdem fordert sie die Anhebung der Löhne und Gehälter auf 50 Prozent des Westniveaus. Während in diesem Punkt eine Einigung in Sicht war, hatte die Reichsbahnführung während der Verhandlungen in der letzten Woche kein Entgegenkommen beim Kündigungs- und Rationalisierungsschutz gezeigt. Die GdED befürchtet Massenentlassungen. Bis zu 68.000 Beschäftigte der Reichsbahn sollen nach ihren Informationen entlassen werden.

Auf Flugblättern wurden die Kunden der Bahn um Verständnis für die Behinderungen gebeten. Der Arbeitskampf, heißt es darin, sei der Gewerkschaft „aufgezwungen worden“. Die Eisenbahner wollten sich nicht länger hinhalten lassen. In dem Forderungskatalog heißt es: „Keine Massenentlassungen, weitgehender Rationalisierungsschutz wie bei der DB (Deutsche Bundesbahn), weitgehende Übernahme der Tarifverträge für Arbeiter und Angestellte der DB“ — mit einer stufenweisen Angleichung der Löhne und Gehälter.

GdED will Streik „voll durchziehen“

Wolfgang Zell, Berliner Bezirksleiter der GdED, kündigte an, die Gewerkschaft werde diesen Streik „voll durchziehen“. Rund 97 Prozent der GdED-Mitglieder in der ehemaligen DDR hatten sich bei der Urabstimmung am Wochenende für Streik ausgesprochen. Während zunächst nur der Großraum Berlin betroffen war, wurden die Aktionen später auf das gesamte Gebiet der neuen Bundesländer ausgeweitet. Am Montag früh war dann der Fern- und Güterverkehr auf den Strecken der Deutschen Reichsbahn zum Erliegen gekommen. Auf Grund des Streiks in den Bahnhöfen an der polnischen Grenze gibt es einen Rückstau von Zügen bis nach Berlin.

Auch für die Hafenbahn in Rostock standen die Signale auf „rot“. Kein Güterzug verläßt seither den Hafen, leere Waggons werden nicht mehr an die Kaikanten geschoben, wo derzeit elf Frachter auf Entladung warten. Behinderungen gab es auch beim Massenumschlag. Kohle und Eisenerz für Eisenhüttenstadt blieben vorerst an der Ostseeküste. Nur bei den Nahrungsmitteltransporten in die UdSSR wurde eine Ausnahme gemacht. Die Stimmung unter den Reisenden reichte vom „totalen Frust“ bis zu verständnisvoller Bitterkeit. „So eine wilde Aktion kann ich nicht gutheißen“, meinte ein 63jähriger auf dem Rostocker Bahnhof. Eine 65jährige Rentnerin konterte: „Ich finde die Aktion in Ordnung. Schließlich muß etwas getan werden, wenn so viele auf die Straße gesetzt werden sollen.“ marke