Ach du liebes Monstrum!

■ Im Bremer Manholt-Verlag wieder vom Feinsten: Ludovic Janviers „Ich, Ungeheuer“

Gibt es ein Leben nach dem Tod von Mutter? Falschrum: Gibt es ein Leben vor dem Tod von Mutter? Stellen wir uns vor: eine Mutter, ein Sohn, vor Rehleintapete,

hier den

Buchumschlag

vor Blümchentapete, und beige ist fröhlich. Im Häuschen: Mutter so schlaff wie ihr Schlafrock, sechzig, dazu mauve, also der Schlafrock; sonst noch: mager, kamillig, eklig. Sohnemann fett, schlaff und träge gegen dreißig. Da jault die Vorstellungskraft vor Platzangst, von Ödischnödi ganz zu schweigen. Und richtig: „Ich glaubte, mich gut zu kennen. Ziemlich böse, aber vor allem ohne Biß. Irrtum. Ich habe Mutter erschlagen wie nichts.“

Das ist nicht das Ende vom Lied mit Schrecken, sondern der lapidar-kolossale Anfang von Sohn Ludovic Janviers 125 Seiten langem Monolog „Ich, Ungeheuer“. Iieh pfui, ein Muttermörder, möchte man denken und schäumen. Aber er: Ist was passiert? „Ich fühlte, wie meine Nase zuging.“ Humorschwärzerkrauser geht's nimmer. Und als ob nun Schaden klug machte, sinniert Ludovic einen endlosen Tag lang über seinem toten Mütterlein und mit sich selbst, während er — ach, es regnet, der Garten wird naß - sie mehr schlecht als recht zersägt, auch hier wieder ein Versager: kann nicht mal Mutter fachgerecht zerhacken zum Verpacken. Kein Haarmann! Trotz Beilchen! Nicht mal ein totes Mütterlein ist ein gutes Mütterlein! Macht's ihm auch da wieder unnötig schwer mit ihren zähen Knochen und alten Sehnen, daß er sich ekeln muß wie damals im Leben, als sie ihn drangsalierte, schikanierte, impotierte. Von wegen Befreiungsschlag! „Warum zuschlagen, fragen Sie mich, wenn doch weggehen genügte? Weggehen konnte ich nicht. Ach, Sie konnten nicht? Nein. Da war noch eine Schuld zu begleichen.“ Bloß: welche? Vielleicht: „Mutter richtet und setzt mich in die Welt, ich erschlage und werfe sie aus der Welt. Einleuchtend.“ Oder? „Oder aber, wenn ich gewußt hätte, warum ich zuschlug, hätte ich natürlich nicht zugeschlagen. Klarer Fall.“

Ludovic Janvier, Jahrgang 1934, „in Frankreich wohlbekannt als Freund und Exeget von Samuel Beckett“ (sagt der Klappentext, hilft aber auch nicht), fuchtelt furios mit Worten, Witz und Stakkato-Sätzchen, daß man Müttern häufiger den Tod wünschen möchte, also literarisch, wenn bloß wieder derart Aufregendes dabei herauskäme. Aber diese Mischung aus harmloser Monstrosität, aus unschuldigem Ungeheurem — das ist doch ziemlich einmalig. Janviers Monolog hat eine solch pointierte Wucht, als hätte er die Zeit in dem Moment angehalten, in der ein weitausgeholter Schläger seinen Ball trifft. Zugleich bringt er alles Mutter-Söhnliche auf den himmel-und-höllischen Punkt, durchsetzt mit stillen Tiefen: „Ich brauche ein riesiges Schweigen, um mich zu hören.“ Das hat er jetzt. Aber das Ich auch als Ungeheuer bleibt am Schluß wieder, was es war: ein verängstigt erstarrtes, auf Liebe wartendes Kind, das lieb sein möchte und nur aus Versehen groß geworden ist. Claudia Kohlhase