Ohne Loks wurde Berlin wieder zur Insel

■ Eisenbahnerstreik sorgte gestern für volle Flugzeuge, glückliche Taxifahrer und ausgebuchte Mitfahrzentralen/ Schwarztaxi-Boom am Bahnhof Zoo und harte Ost-West-Konkurrenz der Chauffeure/ Die Personenzüge rollen wieder

Berlin. Wer gestern mittag noch Angst hatte, in den nächsten Wochen die Stadt wegen andauerndem Verkehrschaos nur noch unter großen Schwierigkeiten und mit viel Geld verlassen zu können, konnte gestern abend wieder aufatmen. »Ab sofort«, teilte die Streikleitung der Reichsbahner gegen 18 Uhr mit, werde der Arbeitskampf für Personenfernzüge beendet.

Die Gewerkschaft der Eisenbahner will sich nun wieder mit der Reichsbahn an einen Tisch setzen und verhandeln. Grund des plötzlichen Sinneswandels: Bei den neuen Sondierungsgesprächen soll geklärt werden, ob die Reichsbahn einem Rationalisierungsschutz für ihre Mitarbeiter zustimmen will. Bisher war die Reichsbahn dazu nicht bereit. Der Chef der Reichsbahn, Hans Klemm, betonte gestern, daß eine Erhöhung der Löhne und Gehälter der 260.000 MitarbeiterInnen möglich sei. Er signalisierte ebenfalls Verhandlungsbereitschaft in Sachen »Personalentwicklung«. Die Streikenden wollen eine Beschäftigungsgarantie für alle Mitarbeiter durchsetzen. Viele Güterzüge werden zunächst aber auf den Abstellgleisen stehen bleiben.

Während die meisten Westberliner stocksauer auf den Zug-Stillstand reagierten, äußerten viele Ostberliner Verständnis für die Arbeitsniederlegung der Lokomotivführer, Schaffner und Schalterbeamten. Viele Westberliner fühlten sich gar an die Blockadezeit des Jahres 1948 erinnert. Innerhalb weniger Stunden verwandelte sich Berlin wieder in eine Insel zurück, weil es kein Entkommen mehr gab: die Flüge nach Westdeutschland waren innerhalb kurzer Zeit völlig ausgebucht, die Mitfahrzentralen nahmen wegen totaler Überlastung kein Telefon mehr ab, und die Taxifahrer meldeten seit langem erstmals wieder Rekordumsätze, weil sie auch für lange Touren — zum Teil bis nach Dresden oder Hannover — angeheuert wurden.

Wer ein Auto besaß, hatte plötzlich ungeahnte Verdienstmöglichkeiten. Am Bahnhof Zoo boten Automobilisten jeden Fahrzeugtyps ihre Dienste zu gepfefferten Preisen an. Private Mitfahrgelegenheiten nach Hamburg, Braunschweig, und Nürnberg kosteten pro Person im Auto eines Westberliners mindestens 100 Mark. Die Ostberliner, seit zwölf Monaten Lehrlinge der freien Marktwirtschaft, unterboten die Konkurrenz und machten das Geschäft: Ein Passatfahrer aus Hohenschönhausen schnappte einem Toyota-Besitzer aus Neukölln die nach Hamburg drängende Kundschaft weg, weil er sich pro Nase mit 80 Mark begnügte. Ein Westler machte sich wütend Luft: »Die Ostler machen's halt immer billiger!«

Erleichtert über die Streikreduzierung wird in jedem Fall ein 60köpfiger russischer Kinderchor sein, für den die Reise in der Nacht zum Dienstag auf dem Berliner Hauptbahnhof plötzlich zu Ende war. Die Gruppe war von Westdeutschland auf dem Weg nach Moskau und mußte in einem Spandauer Aufnahmeheim für Asylbewerber Notquartier nehmen. Etwa 40 russische Familien mit Kindern konnten nicht mehr in den Räumen der Bahnhofsmission am Zoo aufgenommen werden, weil diese schon hoffnungslos überfüllt war.

Die Reichsbahn rechnete gestern damit, daß der Personenverkehr noch am gestrigen Abend wieder aufgenommen werden sollte. Ehe der Betrieb aber wieder normal laufe, werde es einige Zeit dauern, erklärte ein Reichsbahnsprecher gestern abend der taz. Vom Streik ausgenommen sind auch Züge, die dringend benötigte Güter nach Polen oder in die Sowjetunion transportieren. Auch Kohlezüge, die Kraftwerke in den neuen Bundesländern mit Nachschub versorgen, werden weiter über die Schienen rollen. ccm/aku