Wer regiert Berlin nach dem 2.Dezember?

Zum erstenmal nach 44 Jahren wählt die Vier-Millionen-Stadt eine gemeinsame Regierung/ Der Wahlausgang war noch nie so offen wie dieses Mal/ Nur eines ist klar: keine Partei wird alleine regieren können/ Mit dem Austritt aus der Koalition hat die AL entscheidend zur Belebung des Wahlkampfs beigetragen  ■ Von Kordula Doerfler

Gut eine Woche nach dem Ausstieg der Alternativen Liste aus der rot- grünen Koalition und wenige Tage vor der Wahl am 2.Dezember zum ersten Gesamtberliner Parlament nach 44 Jahren ist der Wahlausgang in Berlin ungewisser als je zuvor. Die erste und letzte repräsentative Umfrage für ganz Berlin sagte im Sommer eine hauchdünne rot-grüne Mehrheit voraus — seither ist es ruhig an der Prognosefront.

Mit dem Ausstieg der Igelpartei hat Berlin endlich sein Thema in einem Wahlkampf gefunden, der bis zu den auslösenden Ereignissen, den Häuserräumungen in der Ostberliner Mainzer Straße, lau dahinplätscherte. Seit den Straßenschlachten ist die Stadt politisiert und polarisiert wie seit Jahren nicht mehr.

Gleichsam in letzter Minute gerieten die Konzepte der Wahlkampfstrategen durcheinander, mußten Plakate entfernt und überklebt, Fernsehspots neu gedreht werden. Die alles entscheidende Frage „Wer mit wem“ beherrscht die Diskussion und überlagert jede inhaltliche Auseinandersetzung. Nur soviel scheint klar: Keine der beiden großen Parteien SPD und CDU wird in Berlin nach dem 2.12. allein regieren können.

Entschieden wird die Wahl, darüber sind sich die Parteimanager aller Couleur einig, im Ostteil der Stadt — nur Prognosen über das Votum der bereits wahlverdrossenen „Ostler“ lassen sich nicht erstellen. Drei Faktoren in der schwierigen Gemengelage der Stadt sind besonders schwer zu kalkulieren: Völlig offen ist das Abschneiden der PDS, die bei den Kommunalwahlen in Ost-Berlin am 6.Mai noch satte 30 Prozent einfuhr, in ihren Hochburgen Marzahn und Hellersdorf sogar stärkste Partei wurde.

Ebenso offen ist, ob die rechtsradikalen Republikaner, die vor zwei Jahren in West-Berlin überraschende 7,5 Prozent einheimsten, wieder den Sprung ins Parlament schaffen werden. Und schließlich ist kaum abzuschätzen, inwieweit die Landtagswahl in Berlin vom Bundestagswahlkampf beeinflußt wird. Auch dies ein historisches Novum: Zum erstenmal in der Nachkriegsgeschichte dürfen die WestberlinerInnen sich direkt an Wahlen zu einem nationalen Parlament beteiligen.

Bis zum Koalitionsbruch wurde vermutet, daß die CDU mit ihrem blassen Kandidaten Eberhard Diepgen die SPD im Westteil zwar überflügeln, im Osten aber nur mühsam aufholen werde. Bei den letzten Wahlen in West-Berlin errang die CDU 37,8 Prozent der Stimmen und wurde damit knapp stärkste Partei, bei den Kommunalwahlen in Ost- Berlin aber gerade mal 18 Prozent.

Ihren gesamten Wahlkampf stellte die Union diesmal unter das Motto „Rot-Grün abwählen“.

Offensiv agitiert sie den rechten Wählerrand, indem sie auf ihren Plakaten großflächig gegen das kommunale Ausländerwahlrecht, gegen „kriminelle Jugendbanden“ und „Chaoten“ mobil macht. Mit einem Bruch des Bündnisses so kurz vor dem Wahltermin hatte aber auch die CDU nicht gerechnet. Ein zentrales Feindbild war ihr damit abhanden gekommen, und entsprechend dieser Logik beeilte sich der Spitzenkandidat und Ex-Regierende Eberhard Diepgen, den Bruch als inszeniertes Manöver für eine Neuauflage nach dem 2.Dezember einzustufen.

„Rot-Grün abwählen“ wurde eilends ersetzt durch „Nie wieder Rot- Grün“, und Diepgen schreitet seither siegesgewiß durchs Schöneberger Rathaus. Es gilt jedoch als sicher, daß er kaum Chancen auf einen Sieg hat, selbst wenn die CDU vom Kanzlerbonus profitieren sollte.

Nun kämpfe er für eine „bürgerliche Mehrheit mit der FDP“, verkündete Diepgen letzte Woche. Deren neue Vorsitzende Carola von Braun will die Liberalen aber lieber in Richtung Sozialdemokratie profilieren und muß erst einmal wieder den Sprung ins Parlament schaffen. Als einzige realistische Möglichkeit bleibt der Union eine große Koalition, die seit dem Ausstieg der AL in greifbare Nähe gerückt scheint — obwohl die persönlichen Antipathien zwischen dem SPD-Spitzenmann Walter Momper und seinem Herausforderer Diepgen fast unüberwindbar scheinen.

In beiden Parteien gibt es einen relativ starken Flügel, für den ein solches „breites Bündnis der Demokraten“ die geeignete Antwort auf die äußerst schwierige Lage der Stadt nach der Vereinigung darstellt. Außerdem könne man mit dieser Konstellation mehr in Sachen Hauptstadt und Berlin-Förderung in Bonn herausschlagen. Nach außen wiegelt die SPD indessen jede Frage nach möglichen Koalitionspartnern ab und verkündet seit dem Ausstieg der unbequemen Alternativen großspurig, nach dem 2.Dezember allein regieren zu wollen, wohl wissend, daß dieses Ziel bei der Vielzahl von chancenreichen Parteien schon rechnerisch nicht erreicht werden kann.

Bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus 1989 erzielte die SPD 37,3 Prozent; bei den Kommunalwahlen in Ost-Berlin konnte sie die PDS mit 34 Prozent nur um vier Punkte überflügeln und regiert dort bis heute gemeinsam mit der CDU.

Nach dem Polizeieinsatz in der Mainzer Straße blicken die Sozialdemokraten zwar gelassener auf ihren rechten Wählerrand, dem man schließlich gezeigt hat, daß auch unter einer rot-grünen Regierung unter „Chaoten“ und „Schwerstkriminellen“ aufgeräumt wird. Und auch das seitens der AL angekündigte, dann aber doch nicht gestellte Mißtrauensvotum gegen Walter Momper hat zu einer enormen Solidarisierungswelle geführt und jede innerparteiliche Diskussion um den Polizeieinsatz im Keim erstickt. Um der Behauptung der CDU, alles sei nur inszeniert, entgegenzutreten, wird die SPD seitdem nicht müde, den Ex-Partner in der Öffentlichkeit als Gewaltsympathisanten und nicht regierungsfähig abzustempeln.

Die Sozialdemokraten haben es immerhin geschafft, sich durch eigenwillige Plakatierung ins Gespräch zu bringen. „Berlin gelingt's“ wird optimistisch versprochen, obwohl die Perspektiven für die Stadt den Sozis insgeheim keineswegs rosig erscheinen. Gegen das Schreckgespenst der Verelendung nach dem absehbaren Wegfallen der Bonner Finanzspritzen werden die Wundermittel „Regierungssitz“ und „Olympiade 2000“ beschworen. Darüber hinaus ist die SPD wie auch die CDU kaum in der Lage, neue Konzepte für die Zukunft der Vier- Millionen-Stadt zu entwickeln.

Einer großen Koalition würde Walter Momper vielleicht gerade noch vorstehen wollen, der heimliche Horror der SPD ist es aber, nur zweitstärkste Fraktion zu werden und dann als Juniorpartner einen Regierenden Diepgen zu unterstehen. Da erscheint eine Neuauflage der rot-grünen Koalition vielen doch wieder als das kleinere Übel...

Die AL ihrerseits hat es fertiggebracht, einen beispiellosen Spagat vorzuführen: Fast im gleichen Atemzug mit ihrer Trennung von der SPD empfahl sich die Fraktion wieder als neuer alter Partner. Und kündigte wenige Minuten später ein Mißtrauensvotum gegen Momper an, das ihr aber von ihrer eigenen Basis dann ausgeredet wurde. 15 Prozent der Stimmen, lautete das Wahlziel der AL, deren Mitglieder und Wähler sich in Koalitionsanhänger und -gegner spalten. In ihrem Wahlkampf konzentrieren sie sich auf die „klassischen“ grünen Themen und auf Sozialpolitik.

Gemeinsam mit dem Bündnis 90 aus dem Ostteil der Stadt, das in einer Listenverbindung mit den Grünen und dem Unabhängigen Frauenverband UFV antritt, will man im neuen Parlament eine Fraktion bilden, ohne allerdings ein inhaltliches Gerüst erarbeitet zu haben. Neue Konflikte in der ohnehin zerstrittenen AL, die die Einheit bis heute noch nicht richtig verdaut hat, sind vorprogrammiert und werden eine mögliche Regierungsbeteiligung nicht gerade erleichtern.

Am 11.Januar will das neue Gesamtberliner Parlament seine konstituierende Sitzung abhalten. Daß dann schon eine Regierung gewählt werden kann, erscheint heute unwahrscheinlich.