Stettin nach dem Grenzvertrag: gemischte Gefühle

Der wesentliche Konfliktpunkt ist ausgeräumt, aber die Erinnerung an den Streit um die Stettiner Hafenzufahrt ist noch frisch  ■ Aus Szczecin Klaus Bachmann

„Es gibt einige Erscheinungen, die uns mit Sorge erfüllen müssen“, meint Wojciech Wiczorek, Chef der polnischen Vertretung in Berlin. „Die antipolnische Welle in der ehemaligen DDR, die zunehmenden sozialen Probleme, die zu einer politischen Destabilisierung führen können, die Aktivität rechtsradikaler Kreise in der ehemaligen DDR.“ Wiczorek schloß seinen Vortrag vor einer Parlamentskommission in Stettin dennoch optimistisch: „Zugleich müssen wir zugeben, daß diese Kreise jedoch keinerlei Wahlerfolge verbuchen können, mehr noch, daß die Akzeptanz unserer Grenze in der ehemaligen DDR viel größer ist als in der Bundesrepublik.“

Wiczoreks Äußerungen spiegeln jene widersprüchlichen Empfindungen wieder, die viele Stettiner dieser Tage hegen: Mit der Anerkennung der Grenze ist ein wesentlicher Konfliktpunkt verschwunden, dennoch ist die Unsicherheit geblieben angesichts des mächtigen Nachbarn im Westen. Hinzu kommt, daß Stettin mit der ehemaligen DDR einen Streit auszufechten hatte, der vielen noch in allzu frischer Erinnerung ist: Ermuntert durch inkompetente Bürokraten in der Warschauer Zentrale, verlegten die Ostberliner Genossen ihre Seegrenze so, daß die Stettiner Hafenzufahrt in ihrem Hoheitsbereich lag. Vor anderthalben Jahren hat Ost-Berlin schließlich die Hoheit Polens über die Zufahrt anerkannt, doch entsprechend dem Abkommen liegen nach wie vor deutsche Fischgründe östlich der Zufahrt — Seegebiete, die vor der einseitigen Grenzverlegung polnisch waren. Und so wurde die Grenze auch noch einmal in dem Abkommen vom 14. November bestätigt.

Wie Fachleute durchblicken lassen, wird das polnische Außenministerium nun die Grenze nicht deshalb in Frage stellen, wohl aber ein entsprechendes Abkommen über gemeinsame Vermessungsarbeiten und die Nutzung der Fischgründe, das, wie Bogumil Krol, Berater von Skubiszewski, Stettiner Abgeordneten erklärte, im Rahmen der deutsch- polnischen Konsultationen wie viele andere Abkommen mit der DDR „der Verifikation unterliegt“. Darüberhinaus hält sich Polen die Möglichkeit offen, die Hafenzufahrt zu einem Binnengewässer zu erklären, was nach internationalem Seerecht einseitig durch eine entsprechende Erklärung des Schiffahrtsministeriums erfolgen kann.

Dieses Mißtrauen gegenüber der deutschen Seite ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Zugleich werden in Stettin auch Pläne geschmiedet, wie die Stadt die Zusammenarbeit mit ihren neuen alten Nachbarn verstärken kann. Ein spezieller Bevollmächtiger für die Zusammenarbeit mit Mecklenburg-Vorpommern soll ernannt werden, der Stettiner Flughafen zum internationalen Airport ausgebaut werden. Der Historiker Edward Wlodarczyk zeigt sich gegenüber Plänen, Stettin als potentiellen Partner Berlins aufzubauen, eher skeptisch — solche Absichten hätten sich in der Geschichte bisher nie verwirklichen lassen.

Manche Stettiner Lokalpatrioten sehen daher die Stadt auch mehr als Konkurrenz zu Berlin: Schon der Streit um die Oderbucht war von der DDR seinerzeit vom Zaun gebrochen worden, um Stettin als Transithafen unattraktiv zu machen. Nun sieht Dionizy Popik, Direktor des Stettiner Hafens, eine Chance: „Wir haben eine reelle Chance, Rostock zu überflügeln.“ Und der Stettiner Abgeordnete Kowalczyk weiß auch schon wie: „Der Eisenbahnknotenpunkt Stettin muß ausgebaut werden, die Oder muß modernisiert und per Kanal mit der Donau verbunden werden.“ Zugleich müsse der Ausbau einer Nord-Süd-Autobahn zwischen den skandinavischen Ländern und Österreich/Italien andererseits forciert werden. Popik: „Selbst wenn über Stettin die etwas weitere Route läuft und die ostdeutschen Länder ihre Infrastruktur schneller als wir ausbauen — wir werden noch eine Weile attraktiver sein durch unsere geringeren Löhne.“ Beim Warschauer Transportministerium stoßen solche Argumente noch auf taube Ohren. Der stellvertretende Transportminister Kuligowski hält allenfalls noch einen Ausbau der Oder für finanzierbar. Alles andere sei Zukunftsmusik. Von den Stettinern Abgeordneten erntete er dafür herbe Kritik: Warschau vernachlässige Stettin, die Regierung habe keine Politik für die Küste.

Schon seit jeher beklagen die Stettiner, die Warschauer Zentrale lasse ihre Region links liegen. Dabei können die Stadtväter immerhin darauf verweisen, daß sie in einigen Bereichen dem restlichen Polen bereits voraus ist: Von allen polnischen Städten weist die Stadt beispielsweise die höchste Zahl ausländischer Betriebsgründungen auf.