Im Plüsch der Lucerna

■ Kino in Prag: Die ersten Filme nach der samtenen Revolution

Prag, Frühjahr 1987. Die Kinos der Hauptstadt sind die Seismographen der politischen Liberalisierung. Jeder Fellini, jeder Godard scheint ein Schritt nach vorn, jeder sowjetische Kriegsfilm einer zurück. Vor stets ausverkauftem Haus läuft seit einem Jahr Milos Formans Amadeus. Stets ausverkauft sind aber auch die Werke der im Lande gebliebenen Regisseure Vera Chytilová und Jiri Menzel. In ihren phantastisch-satirischen Filmen wird stets ein Stückchen realsozialistischer Wirklichkeit sichtbar.

Prag, Herbst 1990. Ein Jahr nach der „samtenen Revolution“ versuchen die Kinos am Wenzelsplatz sich dem Standard westeuropäischer Kinocenter anzupassen. Tschechische und slowakische Produktionen wurden in die Lichtspielhäuser der Vorstädte verdrängt, zu Publikumsmagneten entwickelten sich Emmanuelle und Arnold Schwarzenegger. Selbst die Theateraufführungen der Dramen Vaclav Havels sind nicht immer ausverkauft, wenige Wochen vor der Freigabe der Preise sind Hamstereinkäufe wichtiger als kulturelle Veranstaltungen.

In der Lucerna, jenem Sammelsurium aus Veranstaltungsräumen, das zu Beginn dieses Jahrhunderts nach Plänen von Václav Havels Vater errichtet wurde, haben Mitte November zwei der ersten „nachrevolutionären“ Spielfilme Premiere. Beide widmen sich — wie könnte es anders sein — dem Denken, Fühlen und Handeln der Menschen im realsozialistischen Alltag. Die Zeit der Prüfung, eine Arbeit des durch Abenteuergeschichten und Komödien bekannt gewordenen 37jährigen Regisseurs Zdenek Troská, konfrontiert den Zuschauer mit den Problemen des Studenten Petr: Seine Geliebte ist die Frau eines Homosexuellen; sein Vater gehört zur kommunistischen Nomenklatura; eine Bekannte aus dem Heimatort Karlsbad ist Prostituierte. Je länger der Film, desto größer die Verwicklungen: Eine Ersatzgeliebte zwingt Petr zum Abbruch der Beziehung mit der Homosexuellengattin, gleichzeitig schläft sie mit seinem Mitstudenten; der Sohn der Prostituierten fordert seine Freundschaft, die Prostituierte versucht, den Sohn und sich selbst umzubringen, Petr fühlt sich für den Tod des Jungen verantwortlich. All dies vollzieht sich vor dem Hintergrund der samtenen Revolution (Studenten bringen Flugblätter in Fabriken, sprechen in Theatern...) und — dem Magengeschwür des leidgeprüften Studenten. Als dieses schließlich aufbricht, kann sich Petr endlich von all den Problemen im Krankenhaus erholen.

Neu an diesem Film ist, daß das tschechische Publikum wohl zum ersten Mal einen — wenngleich kurzen — Einblick in die Szene der Homosexuellen erhält. Nicht neu ist seine Aussage, daß Homosexualität eine Krankheit sei, die irgendwann auftritt und irgendwann verschwindet — so die allgemeine Überzeugung in der CSFR. In Zeit der Prüfung wird Petr sich am Ende bewußt, wie eng das Einvernehmen zwischen seiner Geliebten und ihrem homosexuellen Mann plötzlich wieder ist — und zieht sich zurück.

Der Film Waren das wir? (Regie: Antonin Más) führt die Zuschauer in den Theateralltag der achtziger Jahre. Der nach der Niederschlagung des Prager Frühlings aus seinen Funktionen entlassene Regisseur Jonás erhält die „Chance“, am Nationaltheater Othello zu inszenieren. Die Mitglieder des Ensembles haben jedoch anderes im Sinn als regelmäßige Proben. Sie verdienen das Geld für Westautos und Marmorbäder mit Fernsehserien und Reklameaufnahmen, bei Schwarzmarktgeschäften und Parteiveranstaltungen. Jonás versucht, den „Augiasstall auszumisten“, und das gelingt ihm auch. Die Schauspieler des Nationaltheaters sind die Mitinitiatoren der politischen Wende, Jonás stirbt in „vollster Zufriedenheit“ — noch einmal hat er „wirkliches Theater“ erleben dürfen.

Zeit der Prüfung und Waren das wir? machen vor allem eines deutlich: Die ersten nach der politischen Wende in der CSFR realisierten Werke geben sich nicht mit den Kleinigkeiten des menschlichen Lebens ab. Gesucht werden Antworten auf die Frage nach dem „Sinn“ des Lebens, Themen sind „Wahrheit“ und „Lüge“, „Ehrlichkeit“ und „Verantwortung“. Im Vergleich mit dem Mainstream der Filme aus der Zeit der Normalisierung nach 1968 hat sich an den Inhalten somit genaugenommen bisher wenig verändert. Auch heute trieft jede Szene vor Moral, Hauptziel ist nach wie vor, den Zuschauer zu belehren. Mußten die Regisseure früher jedoch meist unter Druck für den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft werben, wollen sie heute freiwillig Geburtshelfer der „wahren“ Demokratie sein. Verloren ging dabei die in vierzig Jahren ausgefeilte Kunst, mit Witz, Satire und Fiktion die realsozialistischen Verhältnisse zu beschreiben. Daß die Kritik an ihr nun offen ausgesprochen werden kann, trägt vorläufig wenig zur Qualität der Filme bei. Im Gegenteil. Die eindeutigen Bilder — so z.B. die stets Kaffee kochende und strickende Parteifunktionärin — wirken plump und einfallslos. Ähnliche Ausagen können die TschechInnen heute jeden Tag in Kommentaren und Analysen der Zeitungen finden. Und so verloren sich bereits am zweiten Tag nach der Premiere ganze 15 Zuschauer im Plüsch der Lucerna. Sabine Herre