Der Film als Mauerspecht

Zur diesjährigen Leipziger Dokumentarfilmwoche  ■ Von Dietmar Hochmuth

Gegen diese Reise habe ich mich bis zur letzten Minute gesträubt, vor allem aus der Furcht, so manchen meiner Zeitgenossen entweder ungeniert wiederzusehen oder — nicht wiederzuerkennen. 1988 schwor ich mir: „Nie wieder Leipzig!“ — hatte doch das einzige und schon deshalb größte internationale Filmfestival der DDR seine Druckkammern gegen alles Lebendige hermetisch abgeschottet und per Dekret eine Fernsehproduktion über Erich Honeckers letztes Prestige-Spielzeug, den Mega-Chip, prämieren müssen. Die wütenden Pfiffe und den alternativen Preis für Helke Misselwitz' Winter Adé nannte ein Fernsehgewaltiger aus Adlershof damals „offene Konterrevolution“ — er ist noch heute Redaktionsleiter. Auch die diesjährige Zusammensetzung des Fesivalkomitees im gewendeten Leipzig stimmte nicht gerade heiter: „Reihe eins unverändert!“, meinte erstaunt eine Freundin aus (dem ehemaligen West-) Berlin — nur der Ehrengast, der Oberbürgermeister, war hinzugekommen, aus Hannover, und erinnerte in seiner Rede, statt zur Zukunft des Festivals etwas sagen zu können, an de Sicas Fahrraddiebe, das leuchtende Beispiel für alle Filmkunst. Direktor, Programmchef, Leiter der Videowerkstatt — seit langem als Zögerlinge vom Dienst bewährt — waren zwar vor einem Jahr demonstrativ zurückgetreten, sind aber heute noch, genauso demonstrativ, im Amt. Damals, in der DDR, durfte ja keiner, wie er eigentlich wollte. Und auf die Frage, ob das diesjährige Komitee dem Beispiel des Vorjahresrücktritts folgen würde, folgt als Antwort der Verweis auf die Länderkompetenz Sachsens...

Und doch hat sich in Leipzig einiges geändert: Der Name des Festivals z.B. (die Numerierung wurde fortgesetzt) — es heißt nicht mehr Leipziger Internationale Dokumentar- und Kurzfilmwoche, sondern gravierend anders: Internationale Leipziger Filmwoche für Dokumentar- und Animationsfilm. Und das Bulletin kreiert täglich auf Seite zwei die genau mit Absender versehene Botschaft, daß zwei Dinge zusammengehören: Popcorn und Kino. Neu waren auch die Beschriftungen beim Gästeempfang. Links (wie auf der Landkarte) Westeuropa, rechts der Osten, und in der Mitte die längste Schlange: Bundesrepublik Deutschland — zum ersten Mal hatte ich mich also dort anzustellen, wo bereits das Sich-in-der-Nähe-Befinden mein Leben lang beargwöhnt wurde. Das ist schon ein plötzlicher Akt wider eine eintrainierte Motorik, besonders wenn man die ebenso beigetretenen Damen hinter dem Tresen allesamt seit Jahren kennt. Prompt frag' ich also, weniger eine Instruktion erwartend als Verstörung überspielend, was denn nun auf den Teilnehmerausweis zu schreiben sei — unter Land? Da wird mir gesagt: „Deutschland, wurde so festgelegt!“

Mehr als 90 Prozent der Gäste hatten mit einem Mal diese Beschriftung auf dem Revers — so deutschlastig war Leipzig noch nie. Da wußte man beim Sich-Kennenlernen schon gleich gar nicht, wer wo herkam. Die Post verlangt ja wenigstens noch das „W“ vor der Adresse im Mutterland und die Null als Umrechnungsfaktor fürs Beitrittsgebiet, und auch bei der Juryvorstellung hieß es helfend: Dr.Eduard Schreiber, Potsdam, Deutschland — und das in diesen heiligen Hallen, wo noch vor kurzem „Kunst Waffe“ war.

In einer Filmbeschreibung ist die Rede von Hochgeschwindigkeitsvereinigung. Wie aus dem Reaktor. Auch haben die Filme im Programm („Wir konnten es uns leisten, nur nach Qualität zu gehen!“) eine merkwürdig übergreifende Einheitsformel verpaßt bekommen: die meisten, auch die bis zum Herbst fertiggestellten, kamen eben aus Deutschland, und wenn es kein ausgesprochen namhafter Einreicher war, der sich mit einem Filmtitel wie Komm in den Garten zu Wort meldete, ahnte man ebenfalls kaum, wo der Film nun herkam... Früher hieß das Festivalmotto Filme der Welt — für den Frieden der Welt... Diesmal gab es in Leipzig viel Deutschland, wenig Welt — die sogenannte Dritte-Welt- Schiene ist, auch aus Kostengründen, faktisch weggebrochen (kein Film aus Asien, Afrika, Lateinamerika im Wettbewerb), das bodenlose Solidaritätsfaß DDR ist ausgelaufen mitsamt den vielen Botschaften in aller Welt, die oft vorbei an ästhetischen Mindestkriterien einst großzügige Filialdienste bei der Einladung und Verschickung von Gästen wie Kopien leisteten. Und auch aus dem Osten ist die Flut der Gäste merklich abgeebbt, denn während es in Leipzig früher für Westmark alles gab, gibt es heut' dort alles nur noch für sie. Mein Hotelzimmer im Continental z.B. für 137 Mark, eine Mischung aus alt-tristem HO-Chic und neuem „Wiederaufbau“-Charme („Selbstverständlich mit Frühstück“) — und nach einem Jahr Pressefreiheit liegt hier nur noch 'Die Welt‘ aus.

Bei der merkwürdig spannungslosen Eröffnung im „Capitol“ (der Saal war nicht mal voll) kam es wie befürchtet: die Festivalpräsidentin massierte gleich im ersten Satz die diensthabende Worthülse dieser Tage, sprach von den stalinistisch regierten Diktaturen Osteuropas. Da gehen einem langsam die Ohren zu wie einst bei der „weiteren Stärkung und Festigung des Sozialismus“. So gefestigt sind die alten-neuen Satzmelodien. Ähnlich leicht machte Christiane Mückenberger es sich auch in einem Interview im Festival- Bulletin, als sie mitsamt dem bisherigen Festival auf den Zug der Vorgänge auf den Straßen Leipzigs sprang, mit „den Menschen, die die Tür dort aufgestoßen haben, denen das Festival in der Vergangenheit immer einen Spalt in die Welt eröffnet hat“.

Leipzig hat auch ein neues Motto: Filme für die Würde des Menschen. Das hat kaum mehr Hinweiskraft als „Salz ist salzig!“ Das alte Logo, Picassos Friedenstaube, blieb, und doch dominierten die Mauerspechte, will sagen, die, die an der Mauer picken, jetzt, da man darf, weil es sie kaum mehr gibt und sich an ihr kein Todesstreifen von Tabus mehr auftut. Film als verspätetes Gericht. Und so manches Stück alter DDR- Mentalität menschelte weise post faktum — dafür so richtig tragisch vor sich hin. Eröffnet wurde mit Jürgen Böttchers Film-Bilderbuch Die Mauer. 90 Minuten wandelt er zwischen Gropius-Bau, Brandenburger Tor und Reichstag, begegnet verblüfften Leuten, die mit dem zunehmend ausgefransten Bauwerk konfrontiert werden wie mit einer entschärften Bombe. Grandiose Bilder, die mitunter wertvoller sind als der ganze Film, stehen neben fast beliebigen Schnipseln, verrissenen Schwenks und Unschärfen, was den Eindruck einer ersten unkritischen Materialsichtung aufkommen läßt. Der Höhepunkt: die Aufprojektion von Archivmaterial aus der todbringenden Geschichte der „hochkant aufgestellten Autobahn“. Bilder, geworfen auf die rauhe Struktur des Mauerbetons — fast hat das den Zeugnis-Atem von Höhlenmalerei. Aufgehoben in Graffiti, leider mit einem Schuß Vernissage. Kulmination einer alten-neuen Nischenkultur?

Unvergleichbar handfester mit der Mauer konfrontiert war Sibylle Schönemann (heute Hamburg), als sie 1985 aus dem Knast mit einem Bus in den Westen gefahren wurde. Dorthin wollte sie auswandern, zusammen mit ihrem Mann, als sie, 30 geworden, ahnte, daß ihr der Eintritt in die geschlossene Gesellschaft der Defa-Regisseure auf Dauer erschwert, wenn nicht gar verwehrt bleiben würde. Dabei war sie „nicht mal eine Dissidentin“ oder subversive Märtyrerin. Trotzdem: kein Anschluß unter dieser Nummer, und ihre Filmographie blieb bei Studentenarbeiten stehen. Ausgespuckt von der alten Heimat, kam sie zurück, um einen gestohlenen Abschied nachzutragen, auch Fragen — an jene Leute, sie sich bislang vor Sibylle Schönemanns schlagfertigem Nachhaken durch die Mauer schützen konnten: Verriegelte Zeit. Und wieder kein Anschluß unter dieser Nummer, aufgelegte Telefonhörer, der Verweis auf medizinische Gründe für Aussageunfähigkeit, nach dem Muster „Gestern abend noch regiert — heute morgen haftunfähig“: Eine Schöffin will endlich ihre Ruhe haben, ein Richter mochte erst in neun Monaten vor die Kamera treten (wenn er die Richterkomission passiert hat). Überzeugungstäter und Erfüllungsgehilfen — sie alle verstecken sich, und die Stasi-Akte bleibt hinter Schloß und Riegel. Nur ein Schreibtischbüttel, ein „Vollprofi“, einst von der Stasi für die Defa-Sicherheit verantwortlich, seit kurzem und, wie ich befürchte, nur zwischenzeitlich Forstarbeiter, läßt sich nicht aus der Ruhe bringen, macht aus dem Interview alsbald ein „Hier-frage-ich!“- Verhör. Die Zeit scheint schon wieder verriegelt. Die Aufseherin aus dem Thüringer Knast fährt mit der Brigade regelmäßig in die Partnereinrichtung nach Hof, Erfahrungen austauschen; eine Untersuchungsrichterin war nicht aufzufinden, weil gerade in Braunschweig, zur Umschulung. Die Kadertante der Defa, die einst eine Beurteilung in Unkenntnis der Beurteilten und auf Weisung unterschrieben hat, heißt heute Personalchefin und hat erst vor kurzem 1.300 Kündigungen unterschrieben, wahrscheinlich wieder auf höhere Weisung. Der einstige Gewerkschaftsboß des Studios, der damals die fristlose Entlassung gegenzeichnete, ist heute Herstellungsleiter... Sie alle wollen ihre Ruhe haben und haben sie schon längst. Keine Antwort, geschweige denn — Reue.

Der Film liefert ganz am Anfang und wie nebenbei einen urdeutschen Schlüsselsatz: Zivile Bauarbeiter, die einst den Grenzübergang Herleshausen gebaut haben, bauen ihn nun wieder ab: „Wieso denn nicht, wenn's bezahlt wird?!“ Dennoch läßt der Film auch einige Fragen offen, und das nicht nur, weil die einst so allgewaltige Gegenseite sich verflüchtigt und verschließt. Das Material scheint verschieden genau gesichert, wirkt mal ausführlich zitiert, mal überflogen, ja unvollständig — auch durch die ikonographisch zeichenlastige, semidokumentare Rekonstruktion per Inszenierung. Dies war Sibylle Schönemanns erster Film, im sechsten Jahr der Freiheit. Zu einem derzeit sehr gefragten Thema. Soviel Geduld hatte sie sich in der „alten Heimat“ nicht zugemutet. Doch ein Plädoyer für die Öffnung der IM-Karteien, nicht nur im Interesse der Betroffenen, ist Verriegelte Zeit allemal, bevor diese, womöglich kompatibel gemacht, in neue Computer eingegeben werden. Damit man endlich weiß, zu wessen Geburtstag man noch gehen kann, ohne im Stillen als Ahnungsloser ausgelacht zu werden.

Ein anderes wichtiges Dokument deutscher Gegenwart brachte Klaus Wildenhahn mit Der König geht, als Auftakt seiner Retro. Acht Wochen minutiöser Beobachtung von Männern auf der Baustelle Dresdner Schloß, vor dem Schnitt am 2.Juli. Auch die schleichende Umwandlung der Fiktion Volkseigentum in die Realität einer Kapitalgesellschaft im Auftrag einer Firma, auf deren massive Präsenz nur durch einen 700er BMW mit Münchner Kennzeichen zu schließen ist. „Alles, was wir ein Leben lang nicht in die Lohntüte gesteckt bekamen, ist jetzt for'n Arsch“, sagt einer der Männer bitter. Und meint: wird hinter verriegelten Türen ver/gehandelt. Vom „wir“ zum „ich“. Hoffnungen und Ängste von Leuten, deren Sehnsüchten nach einem besseren Leben sich neue Sprücheklopfer vorgesattelt haben. Wildenhahn montiert die höfisch- starre Diktion aus dem Schloß mit Theo Waigel, der die alte SED-Losung „So, wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben“ (klirrend aus dem Kofferradio) neu unters wenig begeisterte Volk bringt. Dies, meine ich, wäre ein weitaus relevanterer Eröffnungsfilm gewesen, auf den auch das neudeutsche Motto von der Würde des Menschen faustdick und vielschichtig zugleich zugetroffen hätte. Für Böttcher gab es eine rote Rose, an der er sich auch gleich stach, um, wie aus allem, einer Diwa gleich, eine Schau zu machen — Wildenhahn bekam weiße Nelken: ein Festival entfärbt sich.

Wo man früher in Reden von den Unterdrückten sprach, heißt es heute: „die unter Druck Geratenen...“ Früher besang das Festival lautstark und geradezu hymnisch die Zukunft der Menschheit in einer Gesellschaftsformation, die auszusprechen heute an Denunziation grenzt. Nun hat das ganze Gegenteil Hochkonjunktur. Depressionsoratorien besingen die Apologetik des Niedergangs, der postsozialistischen Apokalypse, so daß mir gar nicht recht nach Popcorn war, ja nicht einmal nach Kaffee zwischendurch. Früher, um das 'Sputnik'-Verbot herum, hatten kritische sowjetische Filme in Leipzig keine Chance, jetzt wurde das wiedergutgemacht, natürlich mit dem berühmten Pendeleffekt. Den Vogel schoß die Auswahlkommission mit der Nominierung von Stanislaw Goworuchins So kann man nicht leben ab, einer plumpen Vermarktung des Zorns, der Wut und Verbitterung, die bekanntlich weder gute Ratgeber noch Ästhetikspender sind. Durchdrungen von einer simplen, im Grunde immer halbwahren, demagogischen Beweisführung im Namen der ganzen Wahrheit und der ermordeten Zarenfamilie (solange ihr Tod nicht gesühnt sei, werde die Kriminalität in der SU wachsen), nennt er die Gewalt gegen das eigene Volk verheerender als die gegen ein fremdes, meint, Hitler sei ein Waisenknabe gegen Stalin und die KPdSU gehöre nach Nürnberg, als träfe nicht auf Stalin und Hitler, der nur Lenin kopiert habe, beides zu.

Die Berliner Mauer war für Gorowuchin Trennlinie von Wahnsinn (O) und Vernunft (W). All das moderiert er silbenweise radebrechend in einer verleihgerechten deutschen Fassung zusammen mit Maximilian Schell, der, seit er Zar Peter I. spielte, russisch verheiratet ist und also Kenner. Zu ihm kam Goworuchin aus Moskau wie ein Verwandter. Bis sie sich beide, der eine mit Halbbrille, der andere in smartem Hemd, in die weichen Sessel des Synchronateliers zurücklehnen...

Danke, Max! heißt es am Ende — dabei ist der Film nicht einmal geeignet, die Hungerhilfe für Rußland anzukurbeln, denn er übertrifft mit seiner Dümmlichkeit Lieschen Müllers Vorurteile und die antikommunistischen Altlasten z.B. von Radio Freies Europa um ein vielfaches — wozu soll sie da was schicken in diesen Gulli des Bösen, wenn sowieso nichts ankommt?! Das Schlimme ist: In seinen Details hat der Film unwiderlegbar recht, nur die Schlüsse sind, übrigens in lauter stalinistischer Holzhammerdiktion, fatal verkürzt. Ein Beispiel: ein Milizionär wird ermordet, die Witwe bekommt eine Hungerrente — Umschnitt: New York, Frage an einen Cop von dort, wieviel bekommt er im Jahr und wieviel seine Frau, falls sie Witwe wird. Folgerung: wenn die Moskauer Cops soviel Kohle kriegen und technisch ausgerüstet sind wie die in New York, wird es, mal abgesehen von der Sühne für den Zarenmord in Nürnberg, in Rußland auch keine Gewalt mehr geben. Usw. usf. Die Argumentation ist immer ein bißchen christlich-monarchistisch aufgemotzt und bleibt so ätzend primitiv, daß einer Zuschauerin in Leipzig der laute Ausruf „Ein Scheißfilm!“ entfuhr. Die muß auch Deutschland-W gewesen sein, denn von den „FNL-Ureinwohnern“ traut sich — bei endlich soviel Freiheit auf der Leinwand — schon lange keiner mehr sowas.