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Kollaps ohne Lösung

Eine UNO-Studie analysiert die dramatische Wirtschaftskrise in Osteuropa OECD-Studie: Kapitalstrom aus westlichen Industriestaaten nahezu versiegt  ■ Aus Genf Andreas Zumach

Den Staaten Osteuropas steht „der härteste Winter seit dem Ende des 2. Weltkrieges“ bevor. Mit diesem Satz schließt die in Genf ansässige „UNO-Wirtschaftskommission für Europa“ (ECE) ihren gestern veröffentlichten Bericht über die ökonomische Situation ein Jahr nach Beginn des politischen Umwälzungen, die in sechs der Staaten zur Ablösung der staatsozialistischen Systeme führten. Die Industrieproduktion in der östlichen Hälfte des Kontinets ist nach Erkenntnis der UNO-Experten in den ersten neun Monaten dieses Jahres um durchschnittlich 18 Prozent gesunken gegenüber der Vergleichsperiode im letzten Jahr. Den stärksten Rückgang verzeichnete Polen mit 27 Prozent, den geringsten die CSFR mit vier Prozent.

Auf der Basis noch nicht vollständiger Statistiken geht die EEC — die in ihren Berichten bislang noch „Osteuropa“ und die „Sowjetunion“ getrennt aufführt — von derzeit mindestens zwei Millionen offiziell registrierter Arbeitslosen in der UdSSR sowie weiterer 2,5 Millionen in den übrigen fünf Staaten sowie auf dem Territorium der ehemaligen DDR aus. Allein in Polen ist die Zahl von 56.000 im Januar auf über eine Million Ende September angewachsen.

Die Investitionen sind in den ersten neun Monaten in der UdSSR um zwölf Prozent und in Rest-Osteuropa um 20 Prozent zurückgegangen. Laut einer Mitte November in Paris veröffentlichten Studie der OECD ist der Kapitalstrom aus diesen 24 westlichen Industriestaaten nach Gesamt- Osteuropa von Januar bis Ende August „nahezu auf den Nullpunkt gesunken“. Die Anleihen osteuropäischer Staaten auf den Weltfinanzmärkten nahmen in diesem Zeitraum um 66 Prozent ab.

Der Bericht der ECE unterscheidet zwischen zwei Gruppen von Staaten. In Polen, Ungarn, der CSFR sowie in der Ex-DDR seien die negativen Entwicklungen auch eine Folge der Stabilisierungsmaßnahmen und der Bemühungen um schnelle Wirtschaftsreformen. Das Auseinanderfallen des Comecon sowie der „mehrfache Energiepreisschock“ (Golfkrise sowie Ausfall und Verteuerung der sowjetischen Öllieferungen) hätten diese Anstrengungen weitgehend neutralisiert. Für die UdSSR, Bulgarien und Rumänien beschreibt der Bericht als Hauptursache der gegenwärtigen Probleme den „Kollaps der zentralen Kontrolle der Wirtschaft bei gleichzeitig gescheitertem Versuch, ein effektives Reformprogramm durchzusetzen“.

Der „allgemeine Enthusiasmus, mit der die revolutionären Entwicklungen 1989 begrüßt wurden“, sei inzwischen verdrängt worden von „einer realistischeren Beurteilung der anstehenden Probleme und des Tempos, mit dem sie gelöst werden können“, heißt es in dem ECE-Bericht. Seine Autoren appellieren an westliche Regierungen und internationale Organisationen, Möglichkeiten zur Deckung zumindest des „kurzfristigen Finanzbedarfs“ der Länder Osteuropas zu finden sowie die „derzeitige Vielfalt von Hilfsprogrammen besser zu koordinieren“. Ein Scheitern der angelaufenen Reformprozesse könne „unkalkulierbare Folgen“ haben.

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