: Vom Tempo des Verschwindens
■ Jochen Gerz ist erster Roland-Preis-Träger / Ausgezeichnet: sein Harburger Antifaschismus-Mahnmal
Wie mißt man die Wirkung von Kunst? Und wenn sie dann noch im öffentlichen Raum steht, dieses Gemüt vielleicht erhitzt, jenes gar nicht erst anspricht? Dem x-ten Preisträger dieser preisreichen Tage, aber ersten Träger des „Roland-Preises für Kunst im öffentlichen Raum“, dem in Paris lebenden Jochen Gertz, wurde gestern im Rathaus feierlich u.a. dafür gehuldigt, daß er einen solchen Maßstab errichtet hat.
In der Harburger City stellte er zusammen mit seiner Frau Esther, einer Bildhauerin, ein „Mahnmal gegen Faschismus, Krieg, Gewalt“ auf, eine zwölf Meter hohe Säule, die von weichem Blei ummantelt ist. Ins Blei dürfen und sollen die PassantInnen mit ihrem Namen gegen den Faschismus einstehen, Stahlstifte liegen bereit.
Bahnbrechend und von der Idee her preiswürdig ist, was mit der Säule im Laufe der Zeit passiert: Ist der untere, zugängliche Teil mit Schrift bedeckt, wird das Mahnmal Stück für Stück versenkt. „Denn nichts kann auf die Dauer an unserer Stelle sich gegen das Unrecht erheben,“ sagt Jochen Gerz. Und die für Kunst im öffentlichen Raum programmatische Idee ist, daß das Maß des öffentlichen Interesses das Tempo des Verschwindens bestimmt.
Der mit 20.000 DM ausgestattete Roland-Preis wurde anläßlich des 15jährigen Bestehens des Bremer Programms „Kunst im öffentlichen Raum“ ins Leben gerufen und ist Nachfolger des 1979 geschaffenen „Bremer Bildhauer Preises“. Er wird alle drei Jahre vergeben und ist verbunden mit der Aufforderung, ein eigenes Projekt für Bremen zu konzipieren.
Die Jury besteht aus dem Hannoveraner Professor Lothar Romain, Senatsrat Opper, Weserburg-Chef Deecke, Kunsthallen- Salzmann und anderen in- und auswärtigen Fachmännern. Ihre Begründung: Das Mahnmal verstehe „Mahnung und Erinnerung als sozialen Prozeß“, werde obsolet, „je mehr sich daran beteiligen“, und sei ein Medium der „Erinnerungsarbeit, die von dem täglichen Bild- und Sprachausstoß der Medien verhindert und zugeschüttet wird“.
Jochen Gerz wurde 1940 in Berlin geboren, von den Bomben auf sein Elternhaus traumatisiert, arbeitete als Kellner, Taxifahrer, Teppichverkäufer, Zeitungsausträger und Werbetexter. Danach studierte erGermanistik, Anglistik, Sinologie und Alte Geschichte. Als bildender Künstler ist er Autodidakt.
Seine Arbeiten sind überwiegend von der irritierenden Art eines Beuysschen erweiterten Kunstbegriffs: Performances, Video, Aktionen, Installationen mit viel persönlichem (auch körperlichem) Einsatz. Seine Affinität zur Sprache, deren Wörter doch immer „unter dem leichtesten Druck des Sinnes“ verschwinden, prägt das Werk des Konzeptkünstlers.
1976 trat er mit Beuys und Ruthenbeck auf der Biennale in Venedig auf, im Bauch eines „Pferdes“ verborgen; 1977 auf der „documenta 6“ brachte er 16 Tage in einem Abteil der „Transsibirischen Eisenbahn“ zu, schrieb dort und verbrannte alles später. Ein anderes Mal schrieb er mit der Hand „Diese Worte sind mein Fleisch und Blut“ auf eine Wand — bis zum Blut.
Gerz' Harburger Mahnmal wird übrigens in der kommenden Woche seine fünfte Absenkung erleben. Bus
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