Mit den Nerven und dem Überziehungskredit am Ende

■ Radio 100 bleibt nur noch der Verkauf/ Wird heute der Vertrag mit dem französischen Medienunternehmen NRJ unterschrieben?/ Der Berliner Kabelrat tagt über den Deal/ Traditionelle Sendungen für Frauen, Schwule und Lesben sowie ImmigrantInnen drohen aus dem Äther zu verschwinden

Schöneberg. Am Samstag wird der Kabelrat, das Aufsichtsgremium für den Privatfunk in Berlin, voraussichtlich über die Vertragsverhandlungen zwischen dem linksalternativen Radio 100 und dem französischen Rundfunkunternehmen NRJ (Nouvelle Radio Jeunesse) beraten. Radio 100 will wegen seiner katastrophalen Finanzsituation 34 Prozent der Geschäftsanteile des Mitarbeitervereins und weitere 14 Prozent anderer Teilhaber veräußern. Der Berliner Kabelrat muß bei diesem Verkauf von annähernd 50 Prozent der Anteile entscheiden, ob dann noch davon ausgegangen werden kann, daß der Veranstalter, der ursprünglich die Sendelizenz beantragt hat, weiter derselbe ist — denn die Lizenz ist nicht übertragbar. Außerdem wird darüber beraten, ob die beabsichtigten weitergehenden Veränderungen im Programm und in der Selbstverwaltungsstruktur von Radio 100 noch im Rahmen des ursprünglichen Lizenzantrages liegen.

Soweit einzele Details des Vertrags und die Absichten von NRJ bereits bekannt wurden, ist eine radikale Begrenzung von Wortbeiträgen auf zwei bis vier Minuten pro Beitrag geplant. Die Gerüchteküche brodelt, teilweise wird gar gemunkelt, daß tagsüber nur noch sechs Minuten Wort pro Stunde drin sein sollen und nach 18 Uhr nur noch Musik und Nachrichten auf dem Programm stehen. Die Musikauswahl soll zukünftig der Kollege Computer übernehmen, es droht eine bis ins kleinste ausgearbeitete Formatierung von Wort, Werbung und Musikfarbe: die sogenannte Programmuhr.

Die spezifischen wortreichen Radio-100-Programme für »spezielle Interessengruppen« wie ImmigrantInnen, Frauen, Lesben und Schwule sind jedoch nicht als zwingende Auflage in der Lizenz verankert. Deshalb sieht es für die Zukunft des Frauenprogramms »Dissonanzen«, des gleichgeschlechtlichen »Eldoradio« und von ImmigrantInnen produzierten polnischen, kurdischen, arabischen und türkischen Programme düster aus. Eine Programmreform à la NRJ werden sie vermutlich nicht überleben. Auch wird eine herkömmliche Hierarchie an der Potsdamer Straße etabliert werden: statt der siebenköpfigen »Kernredaktion« soll ein/e veritable ChefredakteurIn regieren.

Zum Ausverkauf gab es wegen der desolaten Finanzlage anscheinend keinerlei Alternative mehr. Seit dem Frühjahr konnte Radio 100 die Honorare für seine MitarbeiterInnen nicht mehr pünktlich bezahlen, später mußten die Zahlungen ganz eingestellt werden. Auch das Werbeaufkommen des von Beginn an unterkapitalisierten Radios steigt nur sehr langsam, die Kosten hingegen wachsen seit dem Start des 24-Stunden- Programms im September 1989. Mit dem Mauerfall und dem Ende des »Medienbiotops« West-Berlin stiegen dann außerdem noch die journalistische Arbeitsmenge und mediale Konkurrenz.

Natürlich standen mit der Maueröffnung auch schnell Interessenten auf dem Plan, die einen Fuß in die Berliner Medienlandschaft bekommen wollten. Im Fall Radio 100 waren das neben NRJ auch der Süddeutsche Verlag ('Süddeutsche Zeitung‘) und das SPD-Medienunternehmen Lokal Radio Medien GmbH, ehemals Linksrheinisches Radio. Die SPD stieg schon recht früh wieder aus den Verhandlungen aus, der Süddeutsche Verlag war nach Angaben von Radio-100-Geschäftsführer Thomas Thimme noch bis vor kurzem mit im Rennen.

Die MitarbeiterInnen von Radio 100, im Laufe der Zeit mehr und mehr zerstritten in eine (programm)reformfreudige Fraktion und eine, die das Magazin-Konzept ablehnt, sind inzwischen mit den Nerven und ihren Überziehungskrediten am Ende. Die vier ImmigrantInnen- Programme haben kürzlich mit einem Brief an die Kabelratsmitglieder auf ihre gefährdete Situation hingewiesen. Die Programme, von denen das kurdische, arabische und das polnische die einzigen ihrer Art in Berlin seien, würden eine wichtige Lücke in der Berliner Medienlandschaft füllen. Und Teile des schwul-lesbischen Programms Eldoradio stellen sich geistig-moralisch schon mal darauf ein, recht bald beim Kabelrat eine neue Frequenz beantragen zu müssen. kotte