Markttreiben in einer Bauruine

■ Friedrichshainer Hochhaus mußte wegen Einsturzgefahr geräumt werden/ Die Räume der ehemals dort ansässigen Bibliothek wurden an Wochenmarkt verpachtet/ Bezirksamt erst später informiert

Friedrichshain. Spätestens Mitte letzten Jahres war das Hochhaus Moll-/Ecke Hans-Beimler-Straße im Stadtbezirk Friedrichshain nicht mehr zu halten. Die Risse in den Wänden erhöhten zwar die Kommunikationsmöglichkeiten der BewohnerInnen untereinander — die Standfestigkeit des Bauwerks jedoch war drauf und dran, sich zu verabschieden. So beschlossen die damals zuständigen Stellen, das Haus von Grund auf zu sanieren — vorher mußten den Bewohnern jedoch neue Bleiben zugeteilt werden. War das bei den »normalen« Mietern schon nicht ganz einfach, so wurde die Umquartierung der in den unteren zwei Etagen beheimateten Stadtbezirksbibliothek »Pablo Neruda« zu einem geradezu herkulischen Unternehmen — Hunderttausende Bücher und Tonträger mußten umgelagert werden. Die Zeit drängte, denn das baupolizeiliche Gutachten verlangte die Räumung des Gebäudes bis zum 31.Dezember 1989. Seitdem steht das Gebäude als eine Art Mahnmal realsozialistischer Wohnungsbaupolitik leer. Nur einmal wurden ein paar Räume durch Mitglieder von Bündnis 90 besetzt — eine Protestaktion, die darauf hinweisen sollte, daß die Bürgerbewegungen bis zum damaligen Zeitpunkt noch immer keine Büroräume zugeteilt bekommen hatten. Doch auch hier verwiesen die Stadtbezirksgewaltigen darauf, daß sich die Bündnisleute aufgrund der Baufälligkeit des Hauses in Lebensgefahr brächten — auch sie mußten wieder ausziehen.

Doch gegen Ende November diesen Jahres kam ganz unerwartet wieder Leben in die ehemaligen Bibliotheksgeschosse. Lastkraftwagen und Kleintransporter fuhren vor und luden diverse Waren ab, und bald schon waren die Fenster mit diversen Werbesprüchen bepflastert. Aus dem abrißreifen ehemaligen Domizil für Leseratten war quasi über Nacht ein »Geschenkdiscount« geworden. Ein Westberliner, der sich in den Räumlichkeiten als »Werbechef« vorstellte, erklärte gegenüber der taz: »Einen Mietvertrag haben wir nicht. Daß wir hier unsere Waren verkaufen, ist einem Gentleman-Agreement mit der Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain zu danken.« Nach Auskunft des »Werbechefs«, der seinen Namen nicht preisgeben wollte, hätten in den beiden Etagen der Ruine Markthändler ihre Stände aufgeschlagen, die »sonst im Freien ihren Geschäften nachgehen müßten«. Weder über die Höhe der »Nutzungsentschädigung« an die Wohnungsbaugesellschaft noch über die Standmiete, die die einzelnen Händler bezahlen müssen, wollte er Auskunft geben.

Im Bezirksamt Friedrichshain erfuhr man von dem Deal erst, als die Waren in dem desolaten Gebäude bereits in den Schaufenstern präsentiert wurden. Nach Auskunft von Tilo Targsdorf vom Friedrichshainer Gewerbeamt hätte seine Behörde einen Kontrolleur in die Mollstraße geschickt. Der konnte jedoch nur feststellen, daß eine Frau Krischer aus Ost-Berlin eine Vereinbarung mit der Wohnungsbaugesellschaft Friedrichhain abgeschlossen hatte, nach der sie das mehr oder weniger einsturzgefährdete Bauwerk bis Jahresende zu gewerblichen Zwecken nutzen könne. Daraufhin erteilte das Gewerbeamt Frau Krischer rückwirkend eine Erlaubnis, einen Markt zu betreiben. Im Unterschied zu einem normalen Discount können die Händler dort auch problemlos die im Ladenschlußgesetz vorgeschriebenen Öffnungszeiten überschreiten.

Über das wahrscheinliche Motiv der Wohnungsbaugesellschaft, die langsam in sich zusammenfallende Ruine an die geschäftstüchtige Händlerin Krischer abzugeben, mutmaßte der leitende Baudirektor von Friedrichshain, Reinhard Meyer: »Auf diese Weise ersparte man sich wohl einen speziellen Wachdienst, der das Gebäude vor eventuellen Besetzern beschützen müßte.«

Die Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain jedoch hüllt sich in Schweigen. Geschäftsführer Rotter hat sämtlichen Mitarbeitern Maulkörbe umgehängt — nur er selbst ist laut Aussage seiner Sekretärin berechtigt, der Presse Auskünfte zu erteilen. Doch leider sei er »ununterbrochen in Sitzungen«. Olaf Kampmann