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Ameisen auf dem Butterbrot

■ „Chocolat“, von Claire Denis, um 22.30 Uhr, West III

Normalerweise enden die Filme mit diesem sehnsuchtsvoll schmachtenden Blick auf die Weite des Ozeans. Das Herz öffnet sich wie ein Taubenschlag. Herein und heraus schwirren diffus-melancholische Gedanken, die so schmalzig sind, daß man sie nicht mal seinem besten Freund erzählen möchte (es sei denn, man hat gerade gemeinsam eine Selbsterfahrungsgruppe gemacht).

Claire Denis nimmt diese versöhnend pathetische Ausblende jedoch zum Ausgangspunkt. Von der Weite des Ozeanpanoramas kehrt die Kamera mit einem ruhigen Schwenk zurück an den Strand, verharrt bei der dort sitzenden Frau, die einen Farbigen beobachtet, der mit seinem Sohn im weichen Sand von den Wellen umspült wird.

Beim Anblick des Farbigen gleiten Frances (Mireille Perrier) Gedanken zurück in ihre Kindheit. France ist die Tochter eines der letzten französischen Kolonialbeamten, der 1957 im äußersten Zipfel Nordkameruns die ehemalige deutsche Musterkolonie verwaltete, drei Jahre vor der Unabhängigkeit des Landes. Während der häufigen Abwesenheit ihres Vaters verbringt sie die meiste Zeit mit dem farbigen Hausboy Protée (Isaach de Bankolé), der die gemäßigten Demütigungen seiner weißen Herren mit geheimnisvollem Stolz erträgt. Für die kleine France ist der schweigsame, stolze Diener Spielkamerad, Vertrauter und Vaterersatz. In einer der schönsten Szenen des Films zeigt Protée den entsetzt staunenden Augen der Kleinen eine einheimische Delikatesse: Lebende Ameisen, auf ein Butterbrot geklebt.

Frances Mutter Aimée (Giùlia Boschi) fühlt sich von dem ansehnlichen Farbigen sexuell stark angezogen, was sie aufgrund ihrer Position als Frau des Gouverneurs während des Partisanenkriegs der Schwarzen gegen die französischen Unterdrücker einer paradoxen Situation aussetzt. Claire Denis spinnt daraus gottlob kein moral- und schmalztriefendes Sittengemälde à la Jenseits von Afrika oder Die letzten Tage von Kenia. Die „liaison interdit“ knistert in verstohlenen, verwirrenden Blickkontakten. Sicher, die Geschichte, sofern vorhanden, zentriert sich um das Liebesmotiv. Doch gerade die Art und Weise, wie der erwartete Hollywoodeffekt nicht zustande kommt, lenkt den Blick immer wieder auf äußere Gegebenheiten, den Klassenunterschied, der gerade durch die laxe „Laissez-faire- Politik“ der Franzosen um so anachronistischer hervortritt.

Als ein havariertes Flugzeug notlanden muß, erscheint eine Gruppe herrenmenschlicher Kolonialfranzosen auf der Bildfläche. Die schräge Idylle wird aus ihrem empfindlichen Gleichgewicht gerissen. Der Status quo zwischen latentem Rassismus und neugieriger Annäherung zerbricht. Um das Gesicht nicht zu verlieren, werden eiligst gesellschaftliche Etikette exhumiert. Aimées aufgesetzter Befehlston gegenüber den Bediensteten gerät bei denen zur belächelten Farce.

15 Jahre hat die Französin Claire Denis als Regieassistentin bei Costa Gavras, Jim Jarmush und vor allem bei Wim Wenders gearbeitet. Chocolat von 1988 ist ihr erster Film und eines der interessantesten Debüts der 80er (ihr aktueller Film Scheiß auf den Tod ist leider total daneben). Ein gelungene Versuch, ausgehend vom Motiv der Rückblende, der Erinnerung, unauflösbare Widersprüche und Sehnsüchte auf eine möglichst visuelle Art darzustellen. Musik und Dialoge bleiben marginal. Ein karges Vergnügen. Manfred Riepe

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